Analyse Dramatische Tage für Europa

Brüssel/Berlin/München (dpa) - Es war ein Kraftakt, und er könnte Angela Merkels Kanzlerschaft gerettet haben - zumindest vorläufig. Als sie nach zwei anstrengenden Gipfeltagen am Freitag in Brüssel vor die Kameras tritt, wirkt Merkel überzeugt, es geschafft zu haben.

Analyse: Dramatische Tage für Europa
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Den innenpolitischen Druck im Asylstreit mit der CSU habe sie „eher als Ansporn“ empfunden, sagte sie - erschöpft, aber selbstbewusst.

Es war mal wieder einer dieser Gipfel in Brüssel, die einfach nicht zu Ende gehen wollten. Erst kurz vor 5.00 Uhr am Freitagmorgen war der erste Tag vorbei. Und man darf wohl annehmen, dass das wesentlich an Merkel lag, die keinesfalls ohne Ergebnis nach Berlin zurückkehren wollte. Immer wieder wurden Entwürfe für das Abschlusspapier durchgekaut und verworfen. Erst drohten die Italiener, die Einigung platzen zu lassen, dann die Ungarn.

Hin und her ging es augenscheinlich bei dem einen Satz, der das für Merkel so heikle Thema „Sekundärmigration“ ansprach. Am Ende blieb es bei der vagen Formulierung: „Die Mitgliedsstaaten sollten alle erforderlichen internen Rechtssetzungs- und Verwaltungsmaßnahmen gegen diese Migrationsbewegungen treffen und dabei eng zusammenarbeiten.“

War's das? Die Rettung der Kanzlerin? Aus Berlin und München erst einmal Schweigen. Merkel eilt davon, und dann gibt es noch eine kleine Panne: Das Auto, das sie ins Hotel bringen soll, ist noch nicht da. Noch eine Verzögerung. Wenige Stunden später ist sie wieder zurück beim Gipfel. Weiter geht's.

Dann äußert sich der Berliner CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt zu den Ergebnissen. Allerdings, und das ist nicht untypisch für Brüsseler Erklärungen, liest er sie wohl anders als die Kanzlerin. Durch den Satz zur Sekundärmigration in der Abschlusserklärung sieht die CSU die von ihr geplanten Zurückweisungen von Migranten, die bereits in einem anderen EU-Land Asyl beantragt haben, im Prinzip gedeckt. „Ich stelle fest, dass zur Vermeidung von Sekundärmigration das Ergreifen von nationalen Maßnahmen ausdrücklich im Ratspapier vorgesehen ist“, erklärt er.

Merkel lobt vor allem die geplanten bilateralen Vereinbarungen, erst mit Griechenland und Spanien, andere sollen folgen. Dass dies mit erheblichen finanziellen Kosten verbunden ist, erwähnt sie erst einmal nicht. Über Griechenland sind zu Anfang der damaligen Flüchtlingskrise 2015 die meisten Migranten nach Deutschland gekommen, bevor es das EU-Türkei-Abkommen gab und die Balkanroute geschlossen wurde. Und via Spanien sollen derzeit viele Migranten den Weg nach Europa und in die Bundesrepublik suchen.

Die Kanzlerin zieht auf die Frage, ob sie mit dem, was sie aus Brüssel nach Berlin nun mitbringe, das von der CSU aufgestellte Kriterium der „Wirkungsgleichheit“ zu den angedrohten Zurückweisungen erfülle, ein optimistisches Fazit. „Ich würde sagen, wenn wir alles, was wir zu 28 vereinbart haben plus das noch, was jetzt zusätzlich vereinbart wird - wenn das wirklich alles umgesetzt wird, dann ist das mehr als wirkungsgleich. Das ist dann ein wirklicher, substanzieller Fortschritt.“

Ist mit Merkels Gipfel-Ergebnissen der von CSU-Chef und Innenminister Horst Seehofer angedrohte Alleingang bei der Zurückweisung von Migranten also nun schon vom Tisch? Wohl kaum. Die CSU will ihren Anhängern vor der Landtagswahl am 14. Oktober unbedingt mit an der Grenze sichtbaren Taten beweisen, dass sich in der deutschen Asylpolitik tatsächlich etwas geändert hat. Immer wieder hatte die CSU in den vergangenen Wochen erklärt, sie wolle nun Taten und Ergebnisse sehen und nicht schon wieder Ankündigungen.

Die Äußerungen Merkels dürften aus Sicht der CSU eine Lösung des erbitterten Konflikts nicht wirklich leichter gemacht haben. Schon am Freitagabend wollte die Kanzlerin ihre Koalitionspartner über den Stand der Dinge informieren. Für den späten Abend war ein längeres Telefonat mit Seehofer geplant.

Und auch am Samstag dürfte die Telefondiplomatie zwischen den ungleichen schwarzen Schwestern auf Hochtouren laufen. Denn auch nach dem Brüsseler Gipfel könnte die vierte Regierung Merkel schon an diesem Sonntag nach nur gut 100 Tagen platzen. Auch ein Scheitern der im September 1949 geschlossenen Fraktionsehe von CDU und CSU im Bundestag ist nicht ausgeschlossen - mit unabsehbaren Folgen wohl auch für das Parteiensystem und die Stabilität Deutschlands.

Noch wird an der Dramaturgie des Entscheidungs-Sonntags gefeilt. Der CSU-Vorstand will von 15.00 Uhr an in München tagen, das CDU-Präsidium, der engste Führungszirkel um Merkel, in Berlin um 17.00 Uhr. Um 19.00 Uhr will die CDU-Chefin dann mit dem größeren Parteivorstand beraten.

Doch schon vor den CSU-Terminen soll am Sonntagnachmittag um 14.00 Uhr ein ZDF-Sommerinterview mit der Kanzlerin aufgezeichnet werden. Bis dahin - so glauben sie auch in den Reihen der Union - muss klar sein, ob es einen Kompromiss zwischen Merkel und Seehofer gibt. Denn Merkels Äußerungen werden am frühen Nachmittag sofort publik werden - aber erst am Abend gesendet. So lange sollten also die Aussagen Merkels Gültigkeit haben - und nicht durch Seehofer konterkariert werden.

Dass die beiden Unions-Granden unabgestimmt in die jeweiligen Sitzungen ihrer Spitzengremien gehen und die aufeinander zu rasenden Züge CDU und CSU aufeinander prallen, glaubt man in den eigenen Reihen eher nicht. Nicht ausgeschlossen wird demnach aber, dass Merkel und Seehofer den Nervenkrieg noch bis Sonntagmittag weiterführen. Immerhin sei die Kanzlerin ja dafür bekannt, dass sie heikle Dinge auch gerne bis zur Spitze treibt und erst in letzter Minuten löst.

Unter dem Strich wird den ungleichen Parteichefs Merkel und Seehofer wohl gleichermaßen viel an einer abgestimmten Linie gelegen sein. Trotz aller persönlichen und inhaltlichen Differenzen - die Verantwortung dafür, dass die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU zerbricht, dürfte keiner allein auf sein Konto nehmen wollen.

Manche haben den Asylstreit anfangs wahltaktisch erklärt. Doch viele in der CSU dürften in dieser Woche erschrocken sein: In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa bezeichneten 39 Prozent der Befragten die CSU als größtes Problem in Bayern, erst danach folgten Flüchtlinge und Wohnungsmarkt.

So suchen allen Beteiligten nach einer Lösung, bei der jede Seite ihre Glaubwürdigkeit behalten und sich inhaltlich dennoch durchsetzen kann. Hört sich nach einer Quadratur des Kreises an. Aus Seehofers Mund klang das im Laufe der Woche schon so: „Kann sein, dass am Sonntag Entscheidungen fallen. Aber ich sage nochmal, ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das auflösen.“

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