Analyse: Was geschah in Fukushima?

Tokio/Berlin (dpa) - Eigentlich sollte Reaktor 1 im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Eins bis April vom Netz gehen. Nun wird der Atomkomplex schon in einem Atemzug mit Tschernobyl genannt.

Widersprüchliche Informationen der japanischen Regierung und der Betreiber machen es schwer, die genaue Situation zu beurteilen. Eine Explosion hat die äußere Hülle des Atommeilers schwer beschädigt, am Sonntag wurde eine Kernschmelze im Reaktor 3 bestätigt.

Um welchen Reaktor handelt es sich?

Fukushima ist das Herz von Japans Atomindustrie, hier gibt es zehn Reaktoren. Zum Vergleich: In ganz Deutschland gibt es 17 Atommeiler. Der Bau von Block 1 begann nach Angaben der World Nuclear Association am 31. Juli 1967, die Leitung der Arbeiten lag beim US-Konzern General Electric. Am 17. November 1970 ging der vom Stromversorger Tokyo Electric Power Company (Tepco) betriebene Siedewasserreaktor mit einer Bruttoerzeugungskapazität von 460 Megawatt ans Netz und lieferte seit März 1971 kommerziell Strom. Immer wieder gab es Pannen: 2006 trat radioaktiver Dampf aus einem Rohr aus, 2002 wurden Risse in Wasserrohren entdeckt. Im Jahr 2000 musste ein Reaktor wegen eines Lochs in einem Brennstab abgeschaltet werden. Und im September 2002 musste der Betreiber Tepco in einem Vertuschungsskandal einräumen, Berichte über Schäden jahrelang gefälscht zu haben.

Was ist das besondere an Siedewasserreaktoren?

Im Reaktordruckbehälter sind die radioaktiven Uran-Brennstäbe permanent von Wasser umgeben, das während des Betriebs kühlt. Es macht außerdem als eine Art Bremse die bei der Kernspaltung freigesetzten Teilchen langsamer, um weitere Kernspaltungen zu ermöglichen. Der obere Teil des Wassers im Druckbehälter wird zum Sieden gebracht. Der Dampf wird über Rohre auf Turbinen geleitet, die Strom erzeugende Generatoren antreiben. Da der Wasser-Dampf-Kreislauf direkt mit dem Reaktor verbunden ist, kann bei Lecks leichter Radioaktivität entweichen. In Deutschland gibt es elf Druckwasser- und sechs Siedereaktoren, der Wasser-Dampf-Kreislauf ist komplett getrennt vom Reaktorbehälter. Am Sonntag gab es Nachrichten, dass rund um das von Fukushima 155 Kilometer entfernte Atomkraftwerk Onagawa eine 400 Mal erhöhte Radioaktivität gemessen wurde. In dem Siedewasserreaktor hatte es im Turbinengebäude nach dem Erdbeben vom Freitag gebrannt, die Behörden dementieren aber, dass Radioaktivität entwichen sei.

Was ist am 11., 12. und 13. März in Fukushima passiert?

Durch das Erdbeben und den Tsunami kam es zu einem Ausfall der Stromversorgung. Zwar sprangen Dieselgeneratoren an, die die Siedewasserreaktoren mit Strom versorgten. Auch diese fielen aber nach etwa einer Stunde aus - wahrscheinlich durch den Tsunami, der in der Umgebung schwere Überschwemmungen verursachte. Batterien konnten nur notdürftig das Kühlsystem aufrechterhalten. Die Folge: Die Brennstäbe konnten nicht mehr ausreichend gekühlt werden, den Pumpen fehlte Strom zum Wälzen des Kühlwassers. Neben Reaktor 1 fiel auch in Block 3 das Kühlsystem aus, somit droht eine doppelte Kernschmelze in zwei Reaktoren - auch wenn die japanische Behörden widersprüchliche Angaben machen. Auch nach der Abschaltung laufen in den Brennstäben diverse Reaktionen ab, weshalb ohne Kühlung eine Kernschmelze und in der Folge die Zerstörung des Reaktors droht.

Was passiert bei einer Kernschmelze?

Wenn das Kühlwasser absinkt, überhitzt der Reaktorkern, und die Brennstäbe werden beschädigt, heißt es in einer Analyse der US-Organisation „Union of Concerned Scientists“. Das könnte zur Schmelze führen: Die Brennelemente werden so heiß, dass sie sich in eine glühende Masse verwandeln. Die Temperaturen steigen auf 2000 Grad, die Schmelzmasse kann sich angesichts der steigenden Radioaktivität, erhöhten Drucks durch Gase und Wasserstoff durch die Stahlwände des Reaktorgefäßes fressen. Damit würde eine große Menge Radioaktivität in dem Schutzgebäude rund um das Reaktorgefäß freigesetzt und über kurz oder lang, etwa durch den Boden, nach draußen gelangen. Möglich ist aber auch eine Explosion des Druckbehälters. Dann wäre der Fall Tschernobyl eingetreten. Nach Angaben der Grünen vergrößern sich die Risiken bei einem Freiwerden von Radioaktivität noch dadurch, dass in den Reaktoren Mischoxidbrennelemente zum Einsatz kamen, die bis zu zehnmal mehr Plutonium enthalten als normale Brennelemente.

Lässt sich eine Kernschmelze aufhalten?

„Dieser Prozess ist nicht mehr zu stoppen, wenn das Kühlsystem versagt hat“, sagte der renommierte Physiker Lothar Hahn, der bis 2010 Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit war, zu „sueddeutsche.de“. „Für den Experten ergibt sich aus den vielen Mosaiksteinchen ein sehr düsteres Gesamtbild“, sagt Hahn. Viele erinnert die verwirrende Informationspolitik der Japaner bereits an Tschernobyl, wo das wahre Ausmaß erst nach Tagen zugegeben wurde. Die Betreiber versuchen mit Meerwasser, das mit dem Halbmetall Bor versetzt wurde, den Meiler wieder unter Kontrolle zu bringen. Was mit dem radioaktiv verseuchten Meerwasser anschließend passiert, ist unklar. Als letztes Mittel bleibt, Sand über die Schmelze zu bekommen und sie soweit wie möglich von der Umwelt abzuschirmen. Für Experten sind die derzeitigen Versuche des Betreibers nur Verzweiflungstaten.

Zerstörte die Explosion am 12. März den gesamten Reaktor?

Nein. Aber Teile der äußeren Reaktorhülle aus Stahlbeton wurden beschädigt. Die Explosion ereignete sich außerhalb des Reaktorbehälters, als Wasserstoffgase zur Druckabsenkung im Reaktor abgelassen wurden und mit Sauerstoff in Kontakt kamen. Der frühere Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit im Umweltministerium, Wolfgang Renneberg, vermutet, die innere Hülle aus Stahl sei wohl noch intakt. Ein Super-GAU mit einem massiven Austritt von Radioaktivität scheine noch nicht vorzuliegen. Es könne sein, dass man gerade nur etwas Zeit gewinne, bevor der Reaktor durchschmelze und eine radioaktive Wolke entstehe. „Das ist eine Situation auf der Kippe“, betont Renneberg.

Was kann im Fall eines Super-GAUs getan werden?

Bisher wurden bereits 200 000 Menschen im Umkreis von 20 Kilometern in Sicherheit gebracht. Greenpeace betont, der Fall sei in seinem Ablauf nicht mit dem GAU 1986 in Tschernobyl vergleichbar, wo der Graphitreaktor tagelang gebrannt hatte. Das Dramatische in Fukushima sei, dass es mehrere Kernschmelzen gebe und die Hauptstadt Tokio nur 250 Kilometer entfernt ist. Zudem ist die Bevölkerungsdichte 20 Mal höher als 1986 in der Region Tschernobyl. An die japanischen Bürger wurden bereits Jodtabletten verteilt. Damit wird die Schilddrüse so mit Jod angereichert, dass sich das radioaktive Jod 131, das aus dem Reaktor entweichen kann, dort nicht mehr festsetzt. Zwar weht im Moment der Wind in der Krisenregion auf das Meer, aber wenn die Wolke Richtung Tokio treiben sollte, müssten die Menschen alles dafür tun, die Luft nicht einzuatmen.

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