Analyse: New York berappelt sich

New York (dpa) - Richtige New Yorker verkriechen sich nicht. Kurz nachdem Wirbelsturm „Sandy“ durch die Millionenmetropole getobt ist, trauen sich die Menschen schon wieder auf die Straßen. Viele in Gummistiefeln, aber zur Not reicht auch ein Paar Turnschuhe.

Die New Yorker wollen mit eigenen Augen sehen, was der Sturm ihrer Stadt angetan hat. Und sie wollen zeigen: Wir leben noch! Wir lassen uns nicht unterkriegen!

Schon früh am dunklen Morgen gleich nach der Horrornacht füllen sich die Straßen langsam wieder mit Leben. Zuerst sind es nur ein paar Hartgesottene, die über den hell erleuchteten Times Square streifen - anders als in den tiefer gelegenen Gebieten gibt es hier weiter Strom. Die Menschen haben die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Es regnet immer wieder und windet.

Am Mittwoch dann, am zweiten Tag danach, klart der Himmel endlich auf. Die Sonne kommt heraus. Die „New York Times“ liegt wieder vor vielen Haustüren. Arbeiter haben damit begonnen, die Bäume aus dem Weg zu räumen. Die ganze Nacht waren Kettensägen im Einsatz.

Während „Sandy“ anderswo in New York City und Umgebung große Verwüstungen angerichtet hat, halten sich die Schäden hier in Midtown Manhattan in Grenzen. Blätter und ein paar abgerissene Äste säumen die Straßen. Ein abgeknickter Baukran hoch oben auf einem Hochhaus-Neubau an der 57. Straße wird zum beliebten Foto-Objekt. Der Stahlkoloss drohte anfangs abzustürzen, doch er ist zäh.

Einige Blocks weiter südlich ist die Lage angespannter. Der Strom ist ausgefallen. Am Dienstagmorgen liegen ganze Straßenzüge im Dunkeln. Auch die Handynetze funktionieren nicht. Die Ampeln bleiben schwarz. Verkehrspolizisten in warn-gelben Jacken regeln den Verkehr am Union Square. Zumindest am ersten Morgen nach „Sandy“ bleibt ein Verkehrschaos aus: Es fahren kaum Autos.

Im Stadtteil Chelsea ist an einem vierstöckigen Haus die Fassade weggebrochen. Drinnen sieht man Lampen von der Decke hängen, ein Bett, die frei stehenden Heizkörper. „Das sieht ja aus wie meine Puppenstube“, sagt ein Mädchen unter den vielen Schaulustigen.

Die Fotoapparate klicken. Oder besser die Smartphones. Für die New Yorker wird der Schrecken zum Abenteuer, ja zur Abwechslung. An jeder Ecke wird fotografiert, was „Sandy“ angerichtet hat: Hier ein abgerissener Vorbau eines Supermarkts, dort einige durcheinandergewirbelte Plastikstühle. Die Stimmung ist gelöst. Die Menschen sind erleichtert. Von Chaos keine Spur. Nur selten fahren Krankenwagen, Feuerwehr oder Polizei mit Sirene vorbei.

Immer mehr New Yorker kommen nach „Sandy“ aus ihren Wohnungen heraus, in denen sie seit den ersten Sturmböen am Montagnachmittag ausharrten. Vor den wenigen offenen Cafés und kleinen Lebensmittel-Geschäften bilden sich lange Schlangen. „Ich habe jetzt so lange zu Hause gesessen, ich wollte endlich mal wieder raus“, sagt eine Studentin, die einen Kaffee im Plastikbecher ergattert hat.

Einige Unerschütterliche gehen schon wieder joggen, andere spazieren mit ihren Hunden über die Straße. Nur die Parks und Spielplätze sind noch geschlossen - zu gefährlich wegen der halb abgebrochenen Äste. Sogar die ersten Fahrradfahrer sind unterwegs - keine schlechte Idee, liegt die U-Bahn doch teils unter Wasser.

Über die 14. Straße fährt eine Kehrmaschine, die Laub und kleinere Äste einsammelt. 50 Straßen weiter nördlich auf der schicken Upper East Side in Manhattan erledigen das die Doormen, die guten Geister der noblen Wohnhäuser. „Damit werde ich wohl noch eine ganze Weile beschäftigt sein“, sagt ein Doorman am Dienstag auf der Park Avenue. „Aber das muss ja gemacht werden, und ich wollte es schnell erledigen, damit niemand auf den nassen Blättern ausrutscht.“

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