Analyse: Großprojekt am Scheideweg

Stuttgart (dpa) - Ein internes Papier aus dem Bundesverkehrsministerium nährt Spekulationen, der Bund wolle aus dem Bahnprojekt Stuttgart 21 aussteigen. Doch von wem und aus welcher Hierarchieebene es stammt, ist unklar.

Die Hausspitze bekennt sich jedenfalls weiter zum Bahnvorhaben.

Die Diskussion gewinnt an Fahrt, weil der Aufsichtsrat des Bahnkonzerns in wenigen Wochen über die vom Vorstand vorgeschlagene Übernahme von 1,1 Milliarden Euro Mehrkosten entscheiden wird - und damit über die Zukunft des Vorhabens. Mittlerweile liegt der Finanzrahmen bei mindestens 5,6 Milliarden.

Welche politischen Motive stehen hinter der Diskussion über S 21?

Stuttgart 21 steht wie der Berliner Hauptstadtflughafen und die Hamburger Elbphilharmonie für Großprojekte, die deutsche Manager und Ingenieure nicht mehr in den Griff zu bekommen scheinen. Anton Hofreiter, Vorsitzender des Verkehrsausschusses des Bundestages, meint, dass das Projekt inzwischen eine gewisse Symbolkraft besitze, insbesondere für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). „Vor der Bundestagswahl einzuräumen, dass dieses Prestigeprojekt Unsinn ist und damit den S-21-kritischen Grünen recht zu geben, passt ihr nicht in den Kram“, sagt der Grünen-Politiker. Dem bahnintern bereits herbeigesehnten Ende des letzten verbliebenen 21-er Projektes stehe ein Veto des Kanzleramts entgegen.

Wie reagiert der Bundesverkehrsminister?

Dass der Bund vorerst noch offiziell hinter dem Projekt steht, zeigt auch das Dementi von Verkehrsminister Ramsauer (CSU). Das Dossier lasse nicht den Schluss zu, der Bund distanziere sich vom Projekt. Vielmehr gehe es um eine offene Debatte, erläuterte einer seiner Sprecher. Zumindest ist festzustellen, dass die Aufsichtsräte, auch die des Bundes, ihre Kontrollpflichten ernst nehmen und verstärkt nachfragen.

Wie entstand die Kostensteigerung?

Die Mehrkosten sind Folge einer Durchsicht des Sechs-Punkte-Einsparprogramms der Bahn durch externe Wirtschaftsprüfer. Diese haben - so ein Bahnsprecher - die Logik, das Zahlenwerk und die Zeitplanungen für das Projekt unter die Lupe genommen. Ergebnis seien „Kalkulationsrisiken“ von 1,1 Milliarden Euro; anders als der Begriff suggeriert, sind dies aber Kosten, die eintreten werden und für die die Bahn die Verantwortung übernehmen will. In der Summe ist unter anderem ein Risikopuffer von 730 Millionen Euro enthalten, etwa für Probleme mit dem Baugrund. Mit weiteren 200 Millionen schlägt die Inflation zu Buche. Davon zu unterscheiden sind Risiken von weiteren 1,2 Milliarden Euro, für die die Bahn die Projektpartner mit ins Boot holen will.

Wer entscheidet nun, wie es mit S 21 weitergeht?

Der Beschluss über die Zukunft des Bahnprojektes liegt beim Aufsichtsrat. Er wird bei seiner nächsten regulären Sitzung voraussichtlich Anfang März entscheiden, ob der Konzern die 1,1 Milliarden Euro aus Eigenmitteln verwendet, um den Weiterbau von S 21 zu ermöglichen. Letztlich werden sich die Kontrolleure fragen müssen, ob bei einer von 7,5 auf 1,9 Prozent gesunkenen Rendite die Investitionen der Bahn für S 21 von 2,7 Milliarden Euro betriebswirtschaftlich noch zu vertreten sind. In dem internen Papier des Ministeriums hieß es, dass die Bahn ein Minusgeschäft machen werde, sobald sie mehr als 1,8 Milliarden Euro Mehrkosten übernähme. Dies könnte passieren, wenn sich der Konzern noch an den Risiken von 1,2 Milliarden Euro beteiligte oder diese ganz tragen müsste.

Welche Bedenken haben die Kontrolleure?

Ein Aufsichtsrat der Arbeitnehmerseite, der seinen Namen nicht nennen will, befürchtet, dass es zu weiteren Kostensprüngen im Laufe der mindestens zehnjährigen Bauzeit kommt. Denn mit den riskantesten Bauarbeiten, dem Trog für den Tiefbahnhof oder dem fast zehn Kilometer langen Tunnel hinauf zum Landesflughafen, wurde noch gar nicht begonnen. Er sieht auch die Gefahr, dass die Zusatzkosten über weitere Rationalisierungen beim Bahnpersonal hereingeholt werden. Andere Überlegungen zufolge könnte die Bahn die zusätzlichen Aufwendungen bei anderen Projekten abziehen und diese dadurch verzögern. Nach Ansicht Hofreiters spielt bei der Entscheidung der Aufsichtsräte auch eine Rolle, ob sie für Verlustgeschäfte haftbar gemacht werden können.

Wie gestaltet sich die Diskussion um Alternativen?

Der neue Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) hält eine Debatte über Alternativen zu Stuttgart 21 für unvermeidlich. „Wenn der Aufsichtsrat rotes Licht gibt, sollten wir nicht sprachlos dastehen, denn die Bürger wollen wissen, wie es dann weitergeht.“ Ein Baustopp werde nicht gemütlich. Dann müsse rasch entschieden werden, wie in einem ersten Schritt die wegen der Aussicht auf S 21 jahrelang vernachlässigten Gleise modernisiert werden. Danach müsse geklärt werden, welcher Bahnhof in Stuttgart entstehen soll. Dagegen betont Ministerpräsident Winfried Kretschmann (ebenfalls Grüne) immer wieder: „Wir eröffnen keine Ausstiegsdebatte.“

Welche Alternativen gibt es?

Das vom S-21-Schlichter Heiner Geißler vorgeschlagene Kombimodell sieht einen abgespeckten Tiefbahnhof für den Fernverkehr und einen oberirdischen Bahnhof für den Regionalverkehr vor. Als Kosten hatte Geißler 2,5 bis 3 Milliarden Euro angegeben. Damit wären aber weder die geologisch schwierigen Tunnelbauarbeiten im Talkessel vermieden, noch viel Platz geschaffen für innerstädtische Entwicklung. Der größte Charme des bisherigen Projektes lag in dem Abbau von Gleisen im engen Stuttgarter Talkessel, so dass Freiflächen für Wohn- und Geschäftsraum und Grünanlagen in der City entstanden wären. Die Stuttgart-21-Gegner favorisieren einen modernisierten Kopfbahnhof und eine Anbindung an die Neubaustrecke nach Ulm über das Neckartal. Kostenpunkt 3,3 Milliarden Euro. Andere Varianten sehen eine Anbindung der Neubaustrecke nicht über die Stuttgarter Innenstadt vor, sondern über einen Bahnhof im Stadtteil Bad Cannstatt oder in Vaihingen/Enz. Vor dem grünen Licht für Stuttgart 21 waren insgesamt rund 60 Alternativen bereits geprüft worden.

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