Analyse: Die USA und der neue Alptraum Chorasan

Washington (dpa) - „Chorasan“ ist ein Wort, das US-Präsident Barack Obama noch nie öffentlich ausgesprochen hatte. Doch am Tag nach den ersten US-Luftangriffen in Syrien sprach er von einer Terrorgruppe dieses Namens, als sei sie weltbekannt.

Es handele sich um eine Ansammlung „erfahrener Al-Kaida-Funktionäre“, sagte er am Dienstag beinahe beiläufig - und sie hege Anschlagspläne gegen die USA und den Westen.

In Washington trauten selbst Fachleute ihren Ohren kaum - Chorasan war vielen von ihnen zuvor kein Begriff. „Ich wusste von der Gruppe seit einem Jahr durch Medienberichte, aber kannte ihren Namen oder die Personen dahinter bis vor ein paar Tagen nicht - und erfuhr auch davon nur durch die Medien“, sagte Will McCants, ein Terrorismus-Experte des renommierten Institut Brookings, dem Portal Buzzfeed.

Blitzartig schaffte es Chorasan von einer öffentlich unbekannten Einheit zur gegenwärtig stärksten Terrorbedrohung für Amerika und Europa. Gefährlicher als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), deretwegen Obama sein Militär überhaupt in den Irak und nach Syrien schickte. Es ist nur wenige Tage her, seit Geheimdienstdirektor James Clapper als erster US-Offizieller den Namen fallen ließ: „Bezüglich der Gefahr für das Heimatland könnte Chorasan so gefährlich sein wie der IS.“

Womöglich ist Clapper das nur so rausgerutscht. Der Sprecher des Weißen Haus machte danach jedenfalls einen gequälten Eindruck. „Für den Ansatz unserer Regierung gegen diese Herausforderung wäre es kontraproduktiv“, über solche Terrorzellen zu sprechen, antwortete Josh Earnest auf bohrende Nachfragen. Ein paar Tage später gab Obama den Befehl für den Angriff auf Chorasan in der Nähe der syrischen Stadt Aleppo.

„Ich bin überrascht, dass er überhaupt bekanntgeworden ist“, sagte der US-Abgeordnete Peter King über den Namen. „Das sollte streng geheim sein. Wir sollten nicht darüber reden“, sagte der ehemalige republikanische Vorsitzende des Heimatschutz-Ausschusses. Mitglieder des Kongresses wurden laut King erstmals vor ein paar Monaten über die Gruppe in Kenntnis gesetzt. Dass in Washington ein Geheimnis so lange tatsächlich verschwiegen wird, ist ziemlich rar.

Offenbar wurde die Bedrohung in der US-Hauptstadt extrem ernst genommen. Die Terrorpläne von Chorasan sollen der Grund gewesen sein, warum die USA im Juni vor Transatlantikflügen verschärfte Kontrollen auch in Europa gefordert haben. Damals warnte Justizminister Eric Holder vor quasi unsichtbaren Sprengsätzen in Handys oder Laptops. Er verwies auf die Zusammenarbeit von Bombenbastlern im Jemen mit Extremisten in Syrien, die zu Selbstmordattacken bereit seien.

Doch bislang wurden solche Pläne in den USA öffentlich immer den bekannten Ablegern des Terrornetzwerks Al-Kaida zugeschrieben. So vereitelten die USA in den vergangenen Jahren nach eigenen Angaben mehrere Anschläge auf Passagierflugzeuge, die Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel im Jemen geplant hatte. In Syrien schauen die Amerikaner argwöhnisch auf die aus syrischen Salafisten bestehende radikale Al-Nusra-Front, die dem Terrornetzwerk ebenfalls nahesteht.

US-Fachleute halten Chorasan für eine Art Zwilling von Al-Nusra. Im Kern gleich, aber mit einer anderen Aufgabe. Al-Nusra sei fokussiert auf Innenangelegenheiten in Syrien wie den Kampf gegen Machthaber Baschar al-Assad und andere Rebellengruppen. Chorasan dagegen kümmere sich um „auswärtige Themen“. Die Gruppe nutze das Machtvakuum in dem Bürgerkriegsland, um unbehelligt Terroranschläge zu planen.

Das einzig Neue daran sei der Name. Was der bedeute, darüber herrscht in den USA keine Einigkeit. Manche Experten meinen, er berufe sich auf „das Großreich der Perser“. Er könnte sich auf eine historische Region beziehen, die einmal das Gebiet um Afghanistan, Usbekistan, Turkmenistan, Irak und Iran umfasste. Andere meinen, er sei ein Ausdruck für das dschihadistische Verständnis vom Ende aller Tage.

Al-Kaida-Chef Eiman al-Sawahiri habe Getreue aus dem Nahen Osten, Nordafrika uns Südasien nach Syrien abgeordnet, schrieb die „New York Times“. Die Gruppe habe wohl nicht mehr als 100 Mitglieder. Angeführt werde sie von Muhsin al-Fadli (33), einem der engsten Vertrauten des getöteten Al-Kaida-Chefs Osama bin Laden. Laut dem Pentagon soll die Gruppe in Syrien Sprengsätze bauen und testen. Daran wollte Obama sie mit seinen überraschenden Militärangriffen hindern. „Wir werden keine sicheren Rückzugsräume für Terroristen tolerieren“, sagte er.

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