Borussia Mönchengladbach Vom Spieler zum Trainer: So geht es Oliver Neuville heute

Fast wäre er beim FC Bayern gelandet, dann spielte sich aber seine Karriere in Leverkusen und Mönchengladbach ab — und mit ganz besonderen Momenten in der Nationalelf. Zeit für einen Besuch bei dem 44-Jährigen.

Borussia Mönchengladbach: Vom Spieler zum Trainer: So geht es Oliver Neuville heute
Foto: Franz-Peter Tschauner

Mönchengladbach. Eigentlich hätte einiges anders laufen sollen. Vater Jupp Neuville, ein Deutscher aus Aachen, Mutter Italienerin. Klein und schmächtig war Oliver, der Sohn, „Piccolino“ nannten sie ihn im Tessin. Und immer: schnell. Aber dass er einmal Vize-Weltmeister mit Deutschland werden sollte, das war nicht abzusehen, als der kleine Oliver nahe Lugano in der Schweiz dem Ball hinterher jagte. Viele Jahre später war aus ihm ein verlässlicher Torjäger geworden. Mit ausgefeilter Schusstechnik, die jeden Torwart, der über Flugbahnen von Bällen wissenschaftliche Abhandlungen schreiben könnte, zur Verzweiflung trieb. Eiskalt vor dem Tor war er auch. Eben der Fußballer, der uns an diesem Morgen in Mönchengladbach sehr viel aufgeräumter und selbstbewusster begegnet, als wir ihn über die Jahre im Rampenlicht in Erinnerung hatten. Das hat ihn früher schon genervt: Sie beschrieben ihn als melancholisch, ruhig, traurig. Er war aber immer: ganz anders. Nur sagte er das nie.

 Neuvilles spätes Tor gegen Polen bei der WM 2006 ist im nationalen Bewusstsein tief verankert.

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Foto: Oliver Berg

Die Haare sind ganz kurz geschnitten, sie werden grau, die Stirn liegt freier. Das Gewicht liegt leicht über Karriere-Maß: seinerzeit waren es 64 Kilo bei 1,71 Meter Körpergröße. Noch heute spielt Neuville wann immer möglich in der Hennes-Weisweiler-Elf, der Mönchengladbacher Traditionsmannschaft. Er wohnt ganz nahe des Stadions. „Das ist hier Heimat geworden. Wir fühlen uns sehr wohl“, sagt der Vater von drei Kindern. Sohn Lars-Oliver aus einer früheren Beziehung ist 20 und lebt in der Schweiz, mit seiner zweiten Frau Koula hat er den 2010 geborenen Alessandro (auf den Unterarm tätowiert) und Leandro, der erst vor wenigen Wochen zur Welt gekommen ist.

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Es geht alles von vorne los, immer wieder. FC Locarno, Servette Genf, CD Teneriffa, Hansa Rostock, Bayer Leverkusen, Borussia Mönchengladbach, Arminia Bielefeld — das sind seine Stationen. Es fehlt der FC Bayern München. Dabei war Neuville doch schon ein Roter: Trainer Giovanni Trapattoni wollte den Genfer Torjäger, der so lange verborgen geblieben war, weil er die Heimat nach dem Tod seines Vaters — Neuville war 17 — nicht gerne verlassen wollte. Neuville absolvierte den medizinischen Test, alles war klar, dann aber kündigte der FC Bayern wegen einer Meniskusverletzung die Vereinbarung auf. Neuville ist heute überzeugt, dass die Begründung vorgeschoben war. Er glaubt, dass Trapattonis Abgang beschlossen und dessen Nachfolger Otto Rehhagel „wie immer in seiner Karriere auf die langen Kerle im Sturm zählte“. Der kleine Neuville blieb zwei weitere Jahre in Genf. Ein Achselzucken bereitet ihm heute noch diese Erinnerung. Es ist gut gelaufen. Auch ohne die Bayern. „Auch wenn es natürlich schön gewesen wäre“.

Immer wieder kommen an diesem Morgen in Mönchengladbach zwischen noch geschlossener Stadiongastronomie (Er bedauert das: Den Capuccino hätte er dann doch gerne jetzt sofort) und dem frisch aufsteigenden Mauerwerk des neuen Hotels im Borussia Park junge Nachwuchsfußballer am Tisch vorbei. Sie grüßen per Handschlag, es ist eine Mischung aus Respekt und Sympathie. Neuville ist hier „Olli“, ein wirklich netter, väterlicher Ratgeber, weniger Vize Weltmeister, Vize-Meister, Vize-Pokalsieger, Vize-Champions-League Sieger. Eben weniger unnahbarer Fußballstar.

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Vize, Zweiter — das haftet an seiner Person, wie es am Verein Bayer Leverkusen klebt. Er weiß das, Neuville sagt es selbst: „Vize“ — das hört sich bei ihm verächtlich an, aber dann lacht er darüber. „Der Titel mit Servette 1995 in der NLA ist mein einziger geblieben“, sagt er, 16 Tore schoss er seinerzeit. Es stört ihn noch immer, es war so viel mehr drin, aber er lächelt diese Erinnerungen weg, weil er weiß, dass er Anfang des neuen Jahrtausends mit Bayer Leverkusen verstörend berauschenden Fußball gespielt hat. Mit Ballack, Schneider, Kirsten, Lucio, Ze Roberto, Placente, Nowotny und Berbatow. Eine Jahrhundertelf. Und dass in Unterhaching im verlorenen Bundesliga-Finale, im Glasgower Hampden-Park im Champions League Finale gegen Real Madrid oder auch im WM-Endspiel 2002 gegen Brasilien die Dinge ganz anders hätte laufen können. Die Spiele gaben es her. Eine Traumzeit. Vorbei.

Neuville ist hier in Mönchengladbach einer von zwei Co-Trainern der U19. Nach dem Ende seiner Profikarriere hat er ein Jahr Praktikum bei Amateur-Trainer Sven Demandt gemacht, dann nahm er sich eine einjährige Auszeit, seit drei Jahren kümmert er sich um die U 19-Mannschaft, hat Spieler wie Mahmoud Dahoud durchgeschleust („Er wäre besser noch ein, zwei Jahre geblieben“) und soll zusätzlich der Borussia ein Gesicht geben auf dem Weg nach China. In China trainierte er unlängst junge Nachwuchskicker. Vielleicht, sagt er, holt er mal einen chinesischen Fußballer an den Niederrhein, um ihn bei Borussia fortzubilden.

Er ist zufrieden mit seinem Job, mehr will er nicht. Mit Freunden investiert er derzeit in eine Fußball-Golf-Anlage in unmittelbarer Nähe des Borussia-Parks, mit gewaltiger Gastronomie. Neuville selbst muss sich wohl fühlen, wie damals in Teneriffa oder in Rostock. Jupp Heynckes hatte ihn von Genf nach Teneriffa geholt, als er dort mit Ewald Lienen und Egon Cordes ein neues Abenteuer begann. Nach einem Jahr holte Lienen Neuville nach Rostock, Neuvilles Durchbruch in Deutschland. Aber irgendwann wurde es immer größer. Und oft verband es sich mit Trainern: Daum, Vogts und Toppmöller hat er geschätzt, Augenthaler wollte ihn dann nicht mehr — und sonderlich viel hat Neuville auch nie von Augenthaler gehalten.

Christian Ziege war es, der Neuville nach dem verkündeten Ende seiner Karriere in Mönchengladbach noch einmal zu einem kurzen Engagement bei Arminia Bielefeld überreden konnte. Aber es waren nur noch die letzten Meter einer ausgleitenden Epoche seines Lebens: Ziege ging, sein alter Förderer Lienen kam - und zählte nicht mehr auf ihn: Anfang 2011 war endgültig Schluss. Bielefeld hätte er sich sparen können.

Als Neuville 1998 in die Nationalmannschaft kam, der noch Berti Vogts vorstand, benötigte er einen Dolmetscher. Heute spricht er fließend deutsch, französisch, italienisch, auch spanisch. Und Portugiesisch versteht er gut, „weil ich viel mit Brasilianern gespielt habe“.

Das Gespräch dauert, aber es macht ihm Spaß, an seine Karriere zurückzudenken. Und an das, was ihn von seinen Nachwuchskickern unterscheidet. „Sie sind viel selbstbewusster als wir damals“, sagt er. Neuville ist an den Mikrofonen der Reporter meist vorbei gegangen. „Das war nicht so mein Ding.“ Auch deshalb ist er in Erinnerung vieler weit weniger Star als einige andere seiner Generation, die weit weniger erreicht haben. Schüchtern? „Auf dem Platz war ich schon auch Drecksack“, sagt er und lacht. Und erzählt von der WM 2006, dem Sommermärchen, das in seiner Erinnerung hinter dem „wahnsinnigen Teamgeist von der WM 2002 mit Teamchef Rudi Völler“ zurücksteht. Und doch haben fast alle Neuvilles Treffer aus dem Vorrundenspiel gegen Polen in der Nachspielzeit im Kopf. Es ist im nationalen Bewusstsein verankert: Flanke Odonkor, zwei Schritte nach vorn, Neuville ist da, ein Schrei geht durch Deutschland, ein Turnier rollt, ein Sommer strahlt. Unvergessen.

Neuville redet aber lieber über seinen Elfmeter im Viertelfinal-Krimi gegen Argentinien. Was für eine Belastung! „Die habe ich damals wirklich gespürt. Der Weg zum Tor war so weit, und das Tor wurde tatsächlich mit jedem Meter kleiner.“ Knallharter Schuss, halbhoch, Leo Franco ist mit den Fingern dran, aber es reicht nicht. Neuville pustet durch. Später ist Italien die Endstation. Er wird Dritter, nicht Vize. Es hätte anders kommen können. Wie so oft. Aber es ist gut so, wie es ist. Er ist zufrieden. Und gar nicht traurig. Eine gute Nachricht.

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