Stürzt nach Armstrong auch die UCI-Spitze?

Berlin (dpa) - Wen zieht der gestürzte Lance Armstrong mit in die Tiefe? Nach dem ersten Schock müssen im ohnehin krisengebeutelten Radsport weitere Macher zittern.

Im USADA-Bericht, der das Dopingsystem des Amerikaners entblößte, wird vor allem der Weltverband UCI angegriffen. Unter den Präsidenten Pat McQuaid und Hein Verbruggen sei Armstrong jahrelang protegiert worden, sogar Dopingbefunde sollen vertuscht worden sein. Teamchef Johan Bruyneel - neben Armstrong der Boss in dessen Mannschaften - erhielt nun die Quittung: Das Team RadioShack-Nissan trennte sich von dem umstrittenen Belgier.

Dieser Schritt geschehe in „beiderseitigen Einvernehmen“, betonte der Rennstall. „Ich habe entschieden, von meinen offiziellen Teamaufgaben zurückzutreten, um mich auf meine Verteidigung zu konzentrieren und das RadioShack Nissan Trek Team vor unnötigen Ablenkungen zu beschützen“, schrieb Bruyneel auf seiner Internetseite.

Der öffentliche Druck auf die Teamleitung um den mächtigen Rennstallbesitzer Flavio Becca war allerdings immens. Kurz zuvor hatte Top-Fahrer Fabian Cancellara öffentlich erwogen, nie wieder unter Bruyneel fahren zu wollen. „Johans Name ist 129 Mal in dem Report aufgeführt“, sagte er der Zeitung „Het Laatste Nieuws“. „Ich weiß nicht, ob ich weiter mit Johan zusammenarbeiten kann.“

Während viele Radsportler fassungslos die Enthüllungsdokumente studieren, interpretierte der UCI-Funktionär Verbruggen den Report der amerikanischen Doping-Jäger auf seine ganz eigene Art: „Da steht doch, dass wir nie etwas unter den Teppich gekehrt haben.“ Doch genau das schien bei der Tour de Suisse 2001 passiert zu sein. Außerdem hatte Verbruggen noch im Frühjahr 2011 behauptet, sein Freund Armstrong habe „nie gedopt. Nie, nie nie“. Nun überraschte er mit der Aussage: „Ich habe nie behauptet, dass Armstrong nicht gedopt hatte“.

„Die UCI muss akzeptieren, dass sie Verantwortung zu übernehmen hat“, sagte der geständige Ex-Doper und inzwischen anerkannte Anti-Doping-Kämpfer David Millar in einem Interview mit dem „Telegraph“. Der Radprofi vom Team Garmin ergänzte dazu: „Der erste Schritte ist, Verbruggen (als Ehrenpräsident) zu entfernen.“

Hatte die UCI zuletzt schon im Dopingfall Alberto Contador und zu Beginn der Armstrong-Affäre mit einem Zickzack-Kurs für Kopfschütteln in der Branche gesorgt, so könnte der Verband nun komplett gegen die Wand fahren. Ob Präsident McQuaid zu halten ist, scheint offen. Der Radsport sei „völlig vom Weg abgekommen und hat seinen moralischen Kompass verloren“, sagte Sky-Teamchef Dave Brailsford, der Bradley Wiggins zum Tour-de-France-Sieg geführt hatte, dem BBC-Radio.

Dass die Frankreich-Rundfahrten Anfang des vergangenen Jahrzehnts als sportliche Farce in die Geschichtsbücher eingehen werden, ist abzusehen. Der Weltverband UCI hat durch die erdrückenden Beweise der USADA kaum ein andere Wahl, als Armstrong seine sämtlichen sieben Titel abzuerkennen. Tour-Chef Christian Prudhomme sprach sich dafür aus, für die Rundfahrten 1999 bis 2005 keinen Sieger nachzubenennen, quasi als Mahnmal eines „verlorenen Jahrzehnts“. „Wir würden uns wünschen, dass es gar keinen Gewinner gibt“, sagte er - die endgültige Entscheidung treffe aber die UCI. Auch Jan Ullrich, der hinter Armstrong dreimal Zweiter wurde, ginge dann leer aus.

Der gebürtige Rostocker hatte mehrfach erklärt, das Gelbe Trikot nicht im Nachhinein zu wollen. Ullrichs Mentor Rudy Pevenage sorgte derweil mit einem bemerkenswerten Interview in der französischen Zeitung „L'Équipe“ für Aufsehen. Der frühere Sportliche Leiter behauptete, durch die Machenschaften Armstrongs selbst zu illegalen Maßnahmen bei Telekom und T-Mobile gezwungen gewesen zu sein.

„Wir wollten alle das Rezept, dasselbe wie Armstrong“, berichtete der Belgier. „Wieso sind wohl alle seine Rivalen von damals, Botero, Beloki, Sevilla, Ullrich, Basso, Hamilton, Winokurow, danach gestürzt? Sie wollten es so machen wie er, aber hatten nicht die gleichen Mittel und waren vor allem nicht so beschützt.“ Sie alle und auch sich selbst bezeichnete Pevenage als „Opfer von Lance Armstrong und Johan Bruyneel“ und deren „Höllenmaschine“.

Bruyneel ist neben dem Arzt Michele Ferrari der zentrale Helfer Armstrongs in dem Bericht - allerdings bei weitem nicht der einzige Akteur, der früher in den Teams US Postal und Discovery Channel unter Vertrag war und heute noch im Radsport aktiv ist. Sean Yates etwa war 2005 Sportlicher Leiter von Armstrong - etwas „Sonderbares“ sei dem jetzigen Manager von Sky dabei aber nicht aufgefallen. Wjatscheslaw Jekimow war jahrelang treuer Teamkollege Armstrongs - jüngst wurde der Russe zum Generalmanager des Eliterennstalls Katusha berufen.

Der USADA-Bericht wurde auch im Fahrerfeld gelesen, Olympiasieger Wiggins war „schockiert vom Ausmaß der Beweise“, wie er Sky News sagte. „Ich habe keine Worte“, klagte der deutsche Sprintstar André Greipel via Twitter, „jetzt muss sich der Radsport mit all diesen Dingen wieder beschäftigen“. Marcel Kittel twitterte: „Das liest sich wie ein Drehbuch eines Action-Films. Ich kann hier kein Happy End erkennen. Das ist eine Schande. Die Entscheider im Radsport sollten endlich anfangen, es besser zu machen als vor zehn Jahren.“

Ob der Wunsch in Erfüllung geht, bleibt abzuwarten. Zur Erinnerung ein Beispiel, das die Erwartungen dämpft: Nach dem Festina-Skandal 1998 sagte der Kletterspezialist Richard Virenque, wenn sich der Radsport „nicht in den kommenden Wochen ändert, wird er das nie tun“. Zu dem Zeitpunkt gingen die großen Armstrong-Skandalfahrten erst los.

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