Leichtathletik: Masehlong - Das Dorf der Entrüstung

Im südafrikanischen Heimatort der 800-Meter-Weltmeis-terin Caster Semenya lassen sich die Menschen ihren Stolz nicht verbieten.

Masehlong. Das Haus der Semenyas hat keine Adresse. Eine 12 hat jemand an das Steinhäuschen gemalt - es ist das zwölfte Haus auf der linken Seite. Masehlong hat keine befestigten Wege, kein Ortsschild. Wer hierhin will, der fragt sich durch und überholt von Eseln gezogene Karren. In dem Dorf im Nordosten Südafrikas ist der wirtschaftliche Fortschritt nie angekommen.

521 Häuser, wie unsichtbar inmitten der trockenen Einsamkeit - bis vor fünf Tagen Caster, das 18-jährige Mädchen der Semenyas, bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft schneller als alle anderen über die 800 Meter lief. Jenem Zeitpunkt, als Millionen Zuschauer erkannten, worüber sich in Masehlong seit Jahren niemand mehr wundert: Die neue Weltmeisterin sieht aus wie ein Mann.

Seit der Leichtathletik-Verband eine Untersuchung zur Feststellung ihres Geschlechts eingeleitet hat, parken teure Autos vor dem Haus mit der Nummer 12, dessen Besitzer nie ein Auto besessen haben. Der Triumph ist längst zum Politikum geworden: Viele Südafrikaner vermuten Rassismus hinter den Zweifeln. Das Thema bewegt die Massen: Schließlich ist Caster Semenya eine der ersten Weltklasse-Leichtathletinnen aus einfachen südafrikanischen Verhältnissen.

Ihre Mutter Dorcus hat das weiße Festkleid angezogen - ausnahmsweise an einem Samstag. "Ich bin müde", sagt die 50-Jährige. Der Versuch eines Lächelns: "Stolz und müde." Am Nachmittag will die Bürgermeisterin eine Rede halten - obwohl die Weltmeisterin noch nicht zurück ist. Sie wird erst am Dienstag empfangen. Seit sechs Uhr morgens hat die Mutter in der Küche gekocht.

Und dann die Fragen der Leute: "Ich habe es so oft wiederholt, dass ich fast nicht mehr kann: Mein Kind ist ein Mädchen. Ich hoffe, dass sie das alles gut überstehen kann." Seit Caster klein war, musste sie sich mit den Hänseleien angesichts ihres männlichen Aussehens arrangieren. Das sei ihr gelungen, sagt die Mutter. Doch was nun, wo die ganze Welt auf die 18-Jährige aus Masehlong blickt? Und britische Buchmacher Wetten annehmen, ob sie eine Frau, ein Mann oder ein Zwitter ist? Dorcus macht sich Sorgen um Caster.

Andere nutzen die Gunst der Stunde. Ein Wagen der "ANC-Youth-League (ANCYL)" fährt vor, der für ihre aggressiven Parolen berüchtigte Jugendorganisation der Regierungspartei ANC. Vier Männer steigen aus, einer stellt sich leicht angetrunken als "Kamerad Sammy" vor, er sei der ANCYL-Vorsitzende der Limpopo-Provinz. "Wir sind hier, um Caster zu verteidigen. Niemand in Europa kann uns diese Medaille wegnehmen." Längst geht es nicht mehr um Semenya.

Der ANC hatte schon am Tag nach dem Rennen von Caster Semenya erklärt, die Partei verurteile die Untersuchung als "rassistisch und sexistisch". Das könne "nur dem Zweck dienen, Frauen als schwach darzustellen." Und selbst die Vereinigung Südafrikanischer Fußball-Spieler rief den Leichtathletik-Weltverband dazu auf, "sich nicht für die rassistische Agenda von Ländern wie Australien missbrauchen zu lassen". Von dort kamen massive Zweifel am Geschlecht Semenyas.

Angesichts dieser Dimension sind ihre Eltern längst nicht mehr Herr über ihr kleines Grundstück mit dem Steinhaus und den beiden kleineren Hütten für Küche und Großeltern. Ein silberner Mazda fährt auf das Grundstück. Der Fahrer steigt aus, geht grußlos zu Semenyas Mutter, danach zu einem Kamerateam, das gerade zu drehen beginnen will. Er stellt sich als Simon vor, ein Onkel von Semenya. "Keine Interviews mehr, die Presse hat so viel Schaden angerichtet." Viele Verwandte sagen später, sie hätten den Onkel noch nie gesehen, andere sagen, er arbeite für die Gemeinde. In der Angelegenheit bleibt vieles rätselhaft. Die Mutter schweigt fortan, aber die Verwandten und Nachbarn lassen sich ihren Stolz nicht verbieten.

Ihr Nachbar Alex Kobo, 32, steht vor dem Haus auf der Straße und stellt sofort klar: "Erstens: Caster ist eine Lady. Ich weiß das, ich kenne sie, seit sie klein ist. Zweitens: Ich habe mich selten so sehr gefreut. Keiner hätte für möglich gehalten, dass jemand von hier das schaffen kann." Semenya trainiert zweimal täglich, nur wenige Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt: Im Rouman Brother Club und im Try Again Club. Zu modernen Trainingsanlagen, wie in Pretoria, hat sie nur selten Zugriff. Das macht ihren Erfolg umso erstaunlicher.

Aber ungewöhnlich war sie immer. Das Mädchen hat ihr ganzes Leben wie ein Junge gelebt. Semenya verbringt ihre Zeit bis heute überwiegend mit Jungs - auf platonischer Ebene wohlgemerkt. Semenya sei halt ein Mädchen, das sich wie ein Junge verhalte, sagen die Bewohner des Dorfes. Dort hat niemand Zweifel: Sie haben Caster als Kind nackt spielen oder baden sehen. Diese einfache Wahrheit genügt.

Langsam schleicht der Nachmittag in dem Dorf voran. Ältere Frauen sitzen im Schatten eines Baumes, Kinder tanzen um einen Baum herum. Über 100 Menschen sind inzwischen da, auch die Bürgermeisterin. Wann sie spricht weiß keiner so genau. "Heute", hatte Dorcus den Nachbarn gesagt. Das ist in Masehlong konkret genug. Immer wieder kommen und gehen Menschen - sie gratulieren, sehr langsam, in aller Ruhe.

Als die Bürgermeisterin endlich mit ihrer Rede beginnt, verabschieden sich einige Freunde von Semenya. Für fünf Uhr ist das Fußballspiel ihres Vereins Sekuruwe Liverpool gegen Rouman Brother Club angesetzt. Linien gibt es auf dem staubigen Platz keine - das Spielfeld wird von Planen abgesteckt, die vor der aufgewirbelten Erde schützen. Sekuruwe verliert - ersatzgeschwächt.

Dem Team fehlte die Angriffskraft: Niemand spielt in Masehlong besser als Caster Semenya. Sie ist das einzige Mädchen im Team, sie ist Mittelstürmerin - und stellt sich bei Elfmetern ins Tor. Am nächsten Wochenende planen sie bei Sekuruwe Liverpool wieder fest mit Semenya. Ein Stück Alltag für Caster. Für Masehlong. Endlich.

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