Handball Zehn verflixte Minuten - Die Analyse zum EM-Aus

Varazdin. Es waren vielleicht zehn Minuten. Gemessen an der Zeit, die Bundestrainer Christian Prokop in den vergangenen vier Wochen gemeinsam mit seinen Handball-Nationalspielern verbracht hat, ist das ein verschwindend geringer Wert.

Der Spanier Daniel Sarmiento (M) setzt sich gegen den deutschen Spieler Rune Dahmke (l) und Maximilian Janke durch.

Der Spanier Daniel Sarmiento (M) setzt sich gegen den deutschen Spieler Rune Dahmke (l) und Maximilian Janke durch.

Foto: Monika Skolimowska



Doch diese zehn Minuten veränderten viel. Vielleicht sogar alles. Das Publikum in der Arena von Neu-Ulm hat die Mannschaft gerade mit viel Applaus in Richtung Kroatien verabschiedet. Der letzte Test vor der Europameisterschaft verlief glänzend. 30:21 gegen Island. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Titelverteidigers ist beantwortet, die nach der Zusammenstellung des Kaders noch nicht. Prokop, seit zehn Monaten im Amt und beseelt davon, neue Wege zu gehen, ruft seine Jungs noch einmal zusammen. Ein letzte Besprechung, ehe sie zwei Tage zu Hause Kraft tanken sollen.

20 Spieler blicken ihren Coach gespannt an. Dann lässt er die Katze aus dem Sack: Finn Lemke, Marian Michalczik, Rune Dahmke und Fabian Wiede bleiben zu Hause. Ein Paukenschlag. Michalczik, Dahmke und Wiede sorgen kaum für Wirbel. Das Aus für Lemke besitzt aber eine Wucht, die Prokop unterschätzt hat. Es ist sein größter Fehler. Wohl auch der unnötigste. Vielleicht kostet er ihn sogar seinen Job. Denn diese Entscheidung setzt einen Prozess in Gang, der während des Turniers nicht mehr gestoppt werden kann. Eine Entfremdung zwischen Trainer und Mannschaft beginnt. Das Team kann in großen Teilen nicht nachvollziehen, warum ihnen der neue Chefcoach das Herz herausreißt. Lemke ist nicht bloß der Abwehrchef. Kein anderer in dieser Truppe besitzt ein höheres Standing als der 25-Jährige.

18 Tage später sitzt Prokop in Sveti Martin, rund 30 Kilometer nördlich von Varazdin gelegen, auf dem Podium. Sein Blick ist trüb. Er fühlt sich sichtlich unwohl. Es ist der letzte deutsche Pressetermin bei dieser EM. Gleich geht es zurück nach Zagreb. An den Flughafen. Nicht ins Hotel. Heimreise statt Halbfinale. Deutschland ist krachend gescheitert. Durch glückliche Umstände besaß das Team am Mittwochabend die Möglichkeit, mit einem Sieg gegen Spanien, doch die Medaillenspiele zu erreichen. „Dass wir überhaupt die Chance hatten, aus eigener Kraft das Ding zu wuppen, war schon eigentlich ein Unding“, sagt Torwart Silvio Heinevetter. Er denkt wohl in diesem Moment an die Hauptrunden-Niederlage gegen Dänemark und die glücklichen Remis in der ersten Gruppenphase gegen Slowenien und Mazedonien. Normalerweise ist man bei diesen Vorleistungen schon vor dem letzten Match raus. Doch die deutsche Mannschaft bekommt diesen unverhofften Joker und verspielt ihn grandios. Nach dem 15:15-Zwischenstand (34.) kassiert der Titelverteidiger acht Tore in Folge — innerhalb von zehn verflixten Minuten.

„Wir haben uns verhalten wie eine Schülermannschaft“, schimpft Andreas Wolff hinterher. Der Torwart findet mal wieder die griffigsten Worte. „Wir sind nach einem katastrophalen Turnier ausgeschieden“, ergänzt er. Viele seine Mitspieler stellen sich, sagen aber nicht viel. Von einem entrückten Verhältnis zu ihrem Trainer wollen sie in diesem Moment aber alle nichts wissen. „So einen Scheiß will ich nicht hören“, echauffiert sich Patrick Groetzki.

Uwe Gensheimer entzieht sich den Fragen. Nach dem Spiel und auch am Tag danach. Er ist der Kapitän — und drückt sich. „Die Leistungsträger haben es nicht geschafft, die Mannschaft zu führen“, sagt Bob Hanning am Donnerstag vielsagend. Der Vizepräsident des Deutschen Handball-Bundes redet Klartext. „Es war nicht alles schlecht, aber es war nicht gut genug.“ Er nimmt auch die Spieler in die Pflicht. „Manche waren nicht in Form.“ Hanning will nun ausgiebig analysieren. „Ernst, ehrlich und hart zu uns selbst“, wie er sagt. In vier bis sechs Wochen soll der Prozess abgeschlossen sein.

Am Donnerstag stärkt er dem Bundestrainer, den er unbedingt haben wollte und für den er im Sommer 500 000 Euro Ablöse an den SC DHfK Leipzig überwies, den Rücken — zumindest vordergründig (siehe Kasten). „Er steht für mich nicht zur Disposition. Das Ziel ist es, mit ihm weiterzumachen.“ Während des Turniers hat er ihn so manches Mal öffentlich vorgeführt.

Auch das gehört zu der Geschichte dieser verflixten zwei Wochen von Kroatien, in denen Prokop von Beginn an verkrampft wirkt. Trotz des Auftakterfolgs gegen Montenegro löst sich das nicht und überträgt sich auf die Mannschaft. „Wir konnten mit der Drucksituation nicht umgehen“, sagt der Bundestrainer am Donnerstag. Er hilft seiner Mannschaft aber auch zu wenig, er verunsichert sie vielmehr. Der Leipziger, der noch einen Vertrag bis 2022 besitzt, lässt einstige Stammkräfte wie Steffen Fäth und Julius Kühn anfangs links liegen, baut unter anderem auf Maximilian Janke, der dieses Vertrauen nie mit Leistungen zurückzahlt. Prokop findet keine Stammformation, richtet seine Taktik viel zu sehr nach dem Gegner aus. Wie sollen sich da eigene Stärken entwickeln können? Einzig gegen Dänemark zeigt die Mannschaft 50 Minuten lang, was in ihr steckt.

„Der Angriff war unsere Baustelle“, sagt Prokop, der sich akribisch auf jeden Gegner vorbereitet, der dieses Wissen aber nicht erfolgsbringend auf seine Mannschaft übertragen kann. Der eine oder andere erzählt hinter vorgehaltener Hand, dass der Coach alles bis ins kleinste Details vorgibt, immer das letzte Wort haben will. Der Coach wirkt zu verkopft, zu wenig empathisch, um diese 16 Einzelkönner auf Linie zu trimmen. Dass einzelne immer wieder ausscheren, spricht auch nicht für den Mannschaftsgeist.

„Ich habe bei diesem Turnier viele Erfahrungen sammeln können. Viel Negatives, aber daraus muss ich jetzt meine Schlüsse ziehen“, sagt Prokop, ehe er sich auf die Heimreise begibt. Dass er Finn Lemke zunächst nicht in seinen 16er-Kader berufen hat, sieht er immer noch nicht als Fehler. Schließlich hat er ihn ja nach zwei Spielen nachnominiert. „Eine richtige Korrektur“, nennt er das. Eine, die zu spät kam. Die Risse waren nicht mehr zu kitten.

Die spannende Frage in den kommenden Wochen wird sein, ob Christian Prokop seinen Job als Handball-Bundestrainer behalten darf. Er selbst will nicht hinschmeißen: „Ein Rücktritt war für mich überhaupt kein Gedanke, weil ich hier auch Großes vorhabe. Bei allem Respekt, wir haben eine ganz tolle Qualifikation gespielt. Und auch die Zeitungen, die hier sitzen, haben mich als den Messias des Handballs und den Julian Nagelsmann des Handballs getitelt. Jetzt denke ich an Rücktritt? Wir sollten schon irgendwo realistisch bleiben.“ Aber hält der Deutsche Handball-Bund auch an ihm fest? Vizepräsident Bob Hanning, der Mann, der diese Entscheidung mutmaßlich fällt, gab zwar am Donnerstag ein Bekenntnis zum Coach ab. Doch welche Halbwertzeit es hat, wird sich zeigen.

Für Hanning sind Gold bei der Heim-WM im kommenden Jahr und bei Olympia 2020 in Tokio „unverhandelbare Visionen“. Deswegen wird er den Weg mit Prokop nur weitergehen, wenn er hundertprozentig von ihm überzeugt ist. Zuletzt machte das nicht den Eindruck.

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