WM 2018 WM 2018: Als Tiki-Taka und der Ballbesitzfußball gescheitert sind

Moskau. Eine Szene aus einem Hotelkomplex von St. Petersburg vor wenigen Tagen: Ein Anhänger der Seleção saß in seinem gelben Trikot an der Theke, orderte ein Bier und redete kein Wort.

WM 2018: WM 2018: Als Tiki-Taka und der Ballbesitzfußball gescheitert sind
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Manche brauchen halt, um eine Fußball-Enttäuschung zu verarbeiten.

Abertausende Brasilianer haben den Schlussakkord der WM 2018 vor Ort noch erlebt, aber statt empathisch den Rekordweltmeister anzufeuern, haben sie apathisch die Kür des neuen Weltmeisters verfolgt. Ist ihr Fußballstil aus der Zeit gefallen? Mitnichten. Lange galt der sehr geordnete Auftritt der Südamerikaner — nur ein Gegentor bis zum Achtelfinale — als titelverdächtig. Ihre Schwäche war letztlich fehlende Effektivität. In fünf Spielen verzeichnete Brasilien mit 103 Torschüssen mehr als jeder der Halbfinalisten Kroatien (100), Belgien (94), England (81) oder Frankreich (75) nach sechs Partien. Auch die 292 Angriffsversuche sind Spitze. Nationaltrainer Tite führte auf die Fährte, was gefehlt haben könnte. „Wir müssen spielen wie eine Vereinsmannschaft. Das Wichtigste ist die Balance.“ Die kippte in einer einzigen Halbzeit im Halbfinale gegen Belgien (1:2), der vielleicht hochwertigsten Paarung des Turniers.

Danach waren die Europäer zum fünften Male im Halbfinale unter sich. Allerdings nicht die erwarteten Großmächte. Nachdem sich Italien und Niederlande gar nicht erst qualifizierten, führten die im Achtelfinale entzauberten Spanier und die in der Vorrunde düpierten Deutschen vor, dass Ballbesitz heutzutage fast gar mehr zählt. Bei keinem WM-Teilnehmer standen Aufwand und Ertrag in einem derart krassen Missverhältnis wie der deutschen Nationalmannschaft: Von 72 Torschüssen fanden nur zwei ins Ziel. Eine unterirdische Quote. Dass der Technischen Studiengruppe der Fifa nichts anderes als „Pech“ als Ursache einfiel, wirkte ein bisschen arg dünn. Es war offensichtlich, dass das Team nicht mit der nötigen Spannkraft ausgestattet war und durch die Vorrunde schlurfte wie ein Tourist zum Kasaner Kreml.

Und auch das muss Löw in seine Analyse einfließen lassen: Das Turnier brachte für den Weltfußball nur wenig Fortschritt. Die letzte Revolution gab vor acht Jahren die Tiki-Taka-Methode der Spanier, die Deutschland dann 2014 in eine neue Stufe überführt hat. Mit weniger Selbstzweck, weniger Selbstverliebtheit. 2018 fehlt ein Team, das eine bahnbrechende Spielkultur aufführt. Dafür fehlt den Nationalmannschaften vor allem die Zeit, um Automatismen zu verfeinern. Diese Evolution findet wohl nur noch im Vereinsfußball statt. Die Plattform als Trendsetter ist längst die Champions League, in der sündhaft teure und eigens komponierte Kader brillieren.

Mit Frankreich und Kroatien ergab sich eine Finalkonstellation, die zum Turnier passte. Weil nur Mannschaften weit kamen, deren individuelle Qualität — hier Antoine Griezmann und Kylian Mbappé, dort Luka Modric und Ivan Rakitic — sich ins kollektive Raster fügte. Bei Frankreich verblüffte, wie sich ein junges, hochbegabtes Ensemble auch der defensiven Doktrin ihres Fußballlehrers unterwarf. Trainer Didier Deschamps ist der Prototyp des pragmatischen Strategen.

Die Kroaten machten Durchhaltevermögen und Widerstandskraft zum Markenkern. Keine Verlängerung war dem Trupp von Trainer Zlatko Dalic zu viel. Auch bei Kroatien galt der Ansatz, bei Bedarf zwischen einem wuchtigen Angriff und resoluter Abwehr zu wechseln. Ihre 272 Klärungsversuche, Zweikämpfe und Paraden in der Verteidigung waren bis zum Finale Bestwert. Was illustrierte, dass Tite noch mit einer anderen These Recht hatte, als er den italienischen Vereinstrainer Massimiliano Allegri von Juventus Turin zitierte: „Es gewinnt nicht immer der einen Titel, der die meisten Tore schießt.“ Sonst wäre nämlich Belgien mit seinen teils brillant herausgespielten 16 WM-Treffern ins Endspiel gekommen.

Die Fifa-Studiengruppe ermittelte, dass viele Teams von Pep Guardiola beeinflusst seien. Hoch stehen, früh pressen. Was die Experten nicht sagten: Dass sich viele Nachahmer dann doch für die Sicherheitsvariante entschieden, weil die Arbeit gegen den Ball immer noch am einfachsten einzupauken ist. So blieb ein Schlagabtausch wie zwischen Portugal und Spanien (3:3) in der Gruppenphase eher die Ausnahme. Immerhin verlief es oft spannender als gedacht: Der Iran hätte beinahe Europameister Portugal auf die Heimreise geschickt.

Letztlich brachte der bevölkerungsstärkste Erdteil jedoch nur einen einzigen Vertreter ins Achtelfinale: die tapferen Japaner, deren wuseliger Systemfußball beinahe die Belgier aus dem Turnier gekippt hätte. Die afrikanische Konföderation verabschiedete sich geschlossen nach der Vorrunde. Die mit der Vergabe der WM 2010 nach Südafrika verknüpften Hoffnungen, Afrikas Fußball werden auf absehbare Zeit zur Großmacht aufsteigen, haben sich nicht erfüllt. Kardinalproblem bleiben die strukturellen Defizite. Die Chancen werden auch nicht zwangsläufig besser, wenn spätestens 2026 zum 48er-Mammutturnier in den USA, Kanada und Mexiko sogar neun afrikanische Teams teilnehmen. 2018 gab der schwarze Kontinent in Russland jedoch eine Visitenkarte ab, die mindestens so enttäuschend wirkte wie die Miene manch brasilianischer Fans zum Finalwochenende.

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