WM 2018 Jogi Löws Projekt Nummer sieben

Sandro Wagner hätte wissen müssen, dass er kaum Zustimmung erhalten wird. Einen Tag, nachdem er von Joachim Löw nicht für die Weltmeisterschaft nominiert wurde, trat Wagner zurück und nach. „Für mich ist klar, dass ich mit meiner Art, immer offen, ehrlich und direkt Dinge anzusprechen, anscheinend nicht mit dem Trainerteam zusammenpasse“, kritisierte er.

WM 2018: Jogi Löws Projekt Nummer sieben
Foto: dpa

Getrauert hat kaum jemand um den Stürmer des FC Bayern.

Weil es Bundestrainer Löw gelungen ist, während seiner nun zwölfjährigen Amtszeit einen Kreis des Vertrauens um sich zu ziehen. Wer reinkommt, bestimmt er. Wer draußen ist, bleibt dort. Wagner hätte das bei Max Kruse, Torsten Frings, Stefan Kießling oder Michael Ballack erfragen können. Sie alle legten sich mit Löw an, der aber ließ sie abtropfen wie Schweißperlen. Immer blieb es ein kurzes Intermezzo.

Der Bundestrainer kennt den Wert seiner Spieler und billigt ihnen Freiraum zu. Toni Kroos durfte nach dem mäßigen Testkick gegen Brasilien im März die Mannschaftskameraden laut kritisieren. Frings und Ballack waren hingegen über ihrem Zenit, als sie aufbegehrten. Marco Reus fuhr etliche Jahre ohne Führerschein Auto. Max Kruse vergaß mal eine Tasche mit Bargeld im Auto. Kruse wurde aus der Nationalmannschaft verbannt. Reus fährt nach Russland. Echte Qualität ist die Korrektur in der Verfehlung. Löw weiß das sehr genau einzuschätzen.

Nun geht er in seine dritte WM als Cheftrainer. In Brasilien führte er das Team zum Titel, vier Jahre zuvor in Südafrika ins Halbfinale, wo Spaniens Lockenkopf Carles Puyol per Kopfball auf den Aus-Knopf drückte. Schon nach dem Triumph von Rio wurde Löw gefragt, warum er denn nun, auf dem Höhepunkt, nicht abtrete. Löw aber denkt in anderen Kategorien. Aufhören, nur weil kaum noch Steigerungspotenzial vorhanden ist? Er hat kurz vor der WM seinen 2020 auslaufenden Vertrag bis 2022 verlängert. Dann würde seine vierte WM anstehen. Löw stünde mit 62 vor dem undurchsichtigen Abenteuer Katar. wenn in Russland nicht Dinge passieren, die niemand voraussieht.

Der 58-Jährige hat seine Erfüllung darin gefunden, alle zwei Jahre ein neues Projekt in Angriff zu nehmen. Abwechselnd EM und WM. Die Zeit zwischen den Turnieren nutzt er zu einigen Experimenten — und zur Ruhe. Seit er und seine Frau Daniela sich vor zwei Jahren getrennt haben, wohnt Löw in Berlin. Untertauchen statt auffallen. Und dann eintauchen. Sich voll dem Turnier hingeben. Nie ist Löw gelassener als während der fünf Wochen im Sommer.

Wenn der Tagesablauf geprägt ist von Training, Nachbereitung, Vorbereitung, Videoanalyse, Mannschaftsbesprechung und Einzelgesprächen. Je hektischer alles um ihn herum, desto gelassener ist er. Löw hat sich längst von der Fremdwahrnehmung seiner ersten Dienstjahre emanzipiert. Als man sich über seinen prägnanten Dialekt lustig machte oder seine stilvolle Garderobe beäugte.

Er nahm eine Entwicklung wie die Kanzlerin. Angela Merkel wurde 2005 gewählt, Joachim Löw ein Jahr später Trainer der Nationalmannschaft. Die beiden wichtigsten Jobs Deutschlands sind seit vielen Jahren in den Händen zweier Machtmenschen, die sich gut verstehen. Beide manifestierten ihre Position durch harte Personalentscheidungen und gelungene Moderation der Übergänge. Nach Turnieren hier, vor oder nach Wahlen dort. Auch hier gelang es Löw, Qualität nie zu verlieren. Top-Nationen wie Frankreich, Spanien oder Italien nahmen sich nach ihren Titelgewinnen eine Auszeit. Deutschland unter Löw erreichte immer das Halbfinale. Mindestens.

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