WM 2018 Brasiliens Trainer Tite ist ein Taktiker

Verschiedene Systeme, drei Kapitäne und erst ein Gegentor: Im ganzen Gewese um Neymar geht die brasilianische Wandlung zur Turniermannschaft unter dem Nationaltrainer fast ein bisschen unter.

Trainer Tite aus Brasilien wird in seinem Land verehrt.

Trainer Tite aus Brasilien wird in seinem Land verehrt.

Foto: Christian Charisius

Samara/Kasan. Es kommt bei einer WM eher selten vor, dass die allzeit befragten Nationaltrainer der Fußball-Welt das Rollenspiel einfach umdrehen. Und selbst mit einer Gegenfrage kontern. „Waren Sie das? Haben Sie das gesagt?“ wollte Adenor Leonardo Bachi, wie der Nationaltrainer Tite mit bürgerlichem Namen heißt, wissen. Seine aufgerissenen Augen in der Kosmos-Arena von Samara verrieten, dass er am liebsten persönlich noch durch die Stuhlreihen gegangen wäre, um einen Journalisten zu identifizieren, dessen These dem Trainer so sehr gefallen hatte, dass daran erinnern wollte: dass seine Nationalelf spiele wie eine Vereinsmannschaft. „Das ist ein Kompliment. Das macht mich stolz, wenn wir das in so kurzer Zeit geschafft haben.“ Und dann murmelte Tite noch: „Schade, dass die Person nicht da ist...“

Der Mann, der von seinem Vorvorgänger Luiz Felipe Scolari den Spitznamen bei einer Verwechslung verpasst bekam, spielt die Feststellung vor dem Viertelfinale gegen Belgien (Freitag 20 Uhr MESZ) in die Karten: Um die offensive Wucht der „Red Devils“ zu zähmen, sind die defensiven Tugenden der Seleçao gefragt. In dem Gewese um die Schauspielkünste Neymars war zuletzt beinahe untergegangen, dass die Brasilianer eine titelverdächtige Gemeinschaft beisammen haben, in der abgesehen von Neymar die Individualität gegenüber dem Kollektiv zurückzustehen hat. Weshalb Tite bereits drei verschiedene Akteure zum Kapitän ernannte: Gegen die Schweiz (1:1) trug Marcelo die Binde, Thiago Silva gegen Costa-Rica (1:0) und Mexiko (2:0), Miranda gegen Serbien (2:0). Allesamt Verteidiger, gewiss kein Zufall.

Drei Prämissen zählte der in der Heimat fast hymnisch verehrte Nationaltrainer auf, als er seine Defensivstrategie erklärte: „Erst halten wir den Raum, dann den Ball und dann erst den Mann im Auge.“ Er könne, scherzte der 57-Jährige, die Lehre bald auch noch auf die Verbandshomepage stellen, damit sie jeder verstehe. Seine meist in einem 4-2-3-1 oder 4-1-4-1 angeordneten Spieler führen die Aufträge so stringent aus, dass Torwart Allisson Becker gegen Mexiko nur einen einzigen Schuss aufs Tor bekam. Der durchaus zu flexiblen Wandlungen fähige Verbund ist vor allem durch den robusten Casemiro und den spielintelligenten Paulinho so fest zusammengeschweißt, dass es auch nur ein einziges Gegentor gab.

In der Arbeit gegen den Ball sind die Automatismen eingeschliffen, so dass unweigerlich die Vergleiche zu jener Generation gezogen werden, die 1994 mit dem Ordnungsliebhaber Carlos Dunga als Spiritus Rector mit der Verkehrung des „Jogo bonito“, des schönen Spiels, sich auf Jahre rechtfertigen musste. Tite hat jenen Dunga als Nationaltrainer vor zwei Jahren beerbt, als der ehemalige Bundesliga-Profi partout keine Kehrtwende nach der im Halbfinale gegen Deutschland so grandios vermasselten Heim-WM 2014 einleiten konnte. Tites Zwischenbilanz nach 25 Länderspielen mit 20 Siegen, vier Remis und nur einer Niederlage bei 54:6 Toren liest sich hingegen prächtig.

Den brasilianischen Fußballern sind die Freiheiten nicht vollends genommen, aber nur Neymar ist explizit von Tite aufgefordert, sich als auf eigene Faust auf eigenen Wege aufzumachen. „Er liebt es zu spielen, er liebt es zu dribbeln. Es ist keine Sünde, das im letzten Drittel zu tun.“ Weil dort ein Ballverlust wenig folgenreich ist. Ansonsten ist die Fehlervermeidungsstrategie überaus effektiv. Nach einer gegnerischen Ecke in 15 Sekunden umzuschalten und den Siegtreffer anzubringen, dürfte für die Belgier morgen ein Ding der Unmöglichkeit werden.

„Die Balance ist das allerwichtigste“, stellte der gegenüber seinen Spielern zudem als sehr einfühlsam beschriebene Lehrmeister bei seinem Dossier über die Ausrichtung heraus. Und weil ihm taktische Fragen so wichtig sind, bringt er zu Presseterminen stets seinen mindestens genauso ehrenvoll ergrauten Assistenten Silvio Mendes Campos Júnior, besser bekannt als Sylvinho, mit, der als ehemaliger Profi beim FC Barcelona breite Akzeptanz genießt. Zitiert wurde zuletzt gar aus einem Interview von Massimiliano Allegri, der seit 2014 Juventus Turin von Titel zu Titel führt.

Tite gab sich als Bewunderer des Trainerkollegen aus, „weil diese Mannschaft in der Serie A immer vorne steht, ohne dafür immer die meisten Tore zu schießen.“ Insofern sollten sich die Belgier an der Kasanka-Mündung in Kasan, wo schon die Titelträume von Deutschland und Argentinien platzten, in Acht nehmen: Dass Romelu Lukaku und Kollegen mit der Empfehlung von einem Dutzend WM-Volltreffern antreten, hat gegen das von Tite trainierte Brasilien mal gar nichts zu sagen.

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