Deutsches Team Jérôme Boateng - Die Festung

Die Wandlung des Innenverteidigers zu einem Leader im Team von Bundestrainer Joachim Löw.

Jérôme Boateng während dem EM-Gruppenspiel gegen Polen.

Jérôme Boateng während dem EM-Gruppenspiel gegen Polen.

Foto: Peter Kneffel

Évians-les-Bains. Es war Anfang Juni, da veröffentlichte Jérôme Boateng auf seiner Facebookseite kurz nach dem Tod von Muhammad Ali ein Foto des Boxers. „Ruhe in Frieden, Legende“, schrieb Boateng darüber, und dann fügte er noch ein Zitat des Größten an: „I don’t have to be what you want me to be.“ Ich muss nicht so sein, wie ihr mich gerne hättet. Es ist ein Satz, der ebenso stehen könnte über dem Leben des Fußballspielers Jérôme Boateng, der auch seinen Weg gegangen ist aus schwierigen Verhältnissen, der als Kind auf den Straßen Rassismus erlebt hat, und der Weltmeister geworden ist. Wie Muhammad Ali. Während eines Interviewtermins in einem Hotel in Frankfurt hat der 61-malige Nationalspieler einmal erzählt, weshalb ihn der Boxer so fasziniert: „Zu seiner Zeit in den 60er und 70er Jahren war es als Schwarzer noch viel schwieriger, anerkannt zu werden. Ali war manchmal dickköpfig, aber er hat viel für die Anerkennung der Schwarzen in der Gesellschaft erreicht. Er ist ein Vorbild.“

Jérôme Boateng hat es geschafft, selbst ein Vorbild zu sein. Auf dem Fußballplatz, wo er in den vergangenen Jahren zum vielleicht weltbesten Innenverteidiger gereift ist und mit dem FC Bayern München und der Nationalelf die höchsten Titel gewonnen hat — und auch daneben. Er ist einer der Protagonisten jener Mannschaft um Sami Khedira und Mesut Özil, die 2010 bei der Weltmeisterschaft geboren wurde und die für multikulturelle Vielfalt steht wie noch keine Auswahl vor ihr. Spätestens seit Alexander Gaulands AfD-Angriff von Rechtsaußen vor wenigen Wochen auf den Verteidiger, ist dieser für viele auch das Lieblingsbeispiel für gelungene Integration. Was gut gemeint, aber ebenfalls diskriminierend ist: Jérôme Boateng ist gebürtiger Berliner.

So froh er war über den Zuspruch im Land, über die Plakate in den Stadien, so genervt war er am Ende von dem Thema. Als in Évian dieser Tage nochmal die Frage nach der AfD aufkam, zog er einen Schlussstrich: „Es ist alles gesagt.“ Die volle Konzentration gilt dem Fußball.

Das war nicht immer so. Jérôme Boateng ist ein Mann, der schwer zu durchdringen ist. Er ist ein Mann mit zwei Gesichtern. Wer mit dem Abwehrspieler zum Gespräch verabredet ist, trifft einen freundlichen, fast ein wenig schüchtern wirkenden Hünen. 1,92 Meter groß, muskelbepackt, sanfte Stimme. Wenn er spricht, hört es sich an wie ein Singsang. Und dann ist da dieser andere Boateng, der sich mit seinem Schuh-Tick (700 Paar), seinen Tätowierungen, der Basecap eine Art Rapper-Image gibt und der sich früher gerne in Affären verstrickt hat. Manchmal scheint es, dass er bewusst diese zweite Identität sucht, hinter der er auch mal wegtauchen kann. „Wir wissen ja, was er für ein exzellenter Fußballer ist“, sagt der Teampsychologe Hans-Dieter Hermann. „Jérôme ist ein gutes Beispiel dafür, dass man ein sehr echter Typ sein kann, ohne dass man deshalb irgendein Klischee erfüllt. Er hat eine eigene Geschichte. Als Sportler ist er hundertprozentiger Vollprofi, außerhalb engagierter Papa und Mode-Ikone.“ Wenn er ihm im Training eine Flasche Wasser reiche, erzählt Hermann, „dann sagt er eher zweimal 'danke'“.

Der Psychologe aus Schwetzingen war es auch, der Boateng intensiv begleitete auf seinem Weg zu einem Weltstar des Fußballs. Der Abwehrspieler galt lange als talentiert, als flexibel, aber nicht als tragende Säule. 2012 wandte er sich an den Teampsychologen, wie Boateng dem „Stern“ erzählte, weil er in Stresssituationen auf dem Feld nicht besonnen genug reagierte. Hermann gab ihm einen Tipp: „Um wach zu bleiben, sollte ich einfach mit mir selbst sprechen — rechts!, links! —, mich immer wieder umdrehen, räumlich denken.“ Die Selbstgespräche, schreibt der „Stern“, seien Teil seiner Spielroutine geworden.

So hat sich der Abwehrspieler Jérôme Boateng in eine Festung verwandelt, die kaum einzunehmen ist. Er ist ein Muster an Zuverlässigkeit und bei dieser Europameisterschaft neben Toni Kroos der beste deutsche Spieler. Das Bild von seinem zirkusreifen Rettungseinsatz auf der Torlinie gegen die Ukraine hat jetzt schon das Zeug zum Sportfoto des Jahres, und wie er nach dem 0:0 gegen Polen das brotlose Angriffsspiel klar kritisierte, schärfte sein Profil als Führungsspieler in dieser Auswahl. „Er besitzt grundsätzlich eine ruhige, angenehme Art, die sehr in die Mannschaft wirkt“, sagt Psychologe Hermann. Es klingt wertschätzend.

Auch Bundestrainer Joachim Löw weiß, was er an der beweglichen Abwehrkante hat. Dessen Leistung im WM-Finale in Rio sei mitentscheidend dafür gewesen, „dass wir den Titel gewonnen haben“, so Löw. In den zwei Jahren seitdem habe sich Boateng weiter entwickelt und ist im sensiblen Gefüge der Nationalmannschaft zu einem Leader geworden. Selbstverständlich gehört der gebürtige Berliner zusammen mit Bastian Schweinsteiger, Manuel Neuer, Thomas Müller, Sami Khedira und Mats Hummels dem sechsköpfigen Spielerrat an, über den Hans-Dieter Hermann sagt, dass der Kreis bei diesem Turnier so aktiv sei wie nie zuvor. „Jérôme wird von der Mannschaft absolut respektiert und anerkannt“, sagt Löw, der den Abwehrspieler bewusst in eine neue Rolle geführt hat, weil Boateng ein gutes Gefühl für die Aktionen habe, die vor ihm im Spiel passieren. „Ich habe ihn aufgefordert, mehr zu kommunizieren. Das hat er bisher gut gemacht.“

Reden, nicht nur mit sich selbst, auch das ist eine neue Stärke des Jérôme Boateng. Im Gespräch damals in diesem Frankfurter Hotel sagte der Spieler über seine kleinen Konzentrationsmängel, die er sich ab und an noch leistete auf dem Feld: „Keiner ist fehlerfrei, aber ich arbeite dran.“ Jérôme Boateng, so scheint es, hat seine Lektionen gelernt. Muhammad Ali könnte stolz sein.

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