Bernard Dietz wird 70 - „Pack Mutter ein, ich bin Kapitän!“

Bernard Dietz hat eine große Fußball-Karriere hinter sich. Dabei war damit gar nicht zu rechnen. Heute ist er stolz auf das Erreichte - und ein glücklicher Mann, der am Donnerstag 70 Jahre alt wird. Ein Besuch in Drensteinfurt.

Bernard Dietz wird 70 - „Pack Mutter ein, ich bin Kapitän!“
Foto: Achim Scheidemann/dpa

Drensteinfurt. Es gibt Schnittchen und Kaffee im Wohnzimmer der Familie Dietz im westfälischen Drensteinfurt-Walstedde. Mehr als zwei Stunden haben wir in dem 3000-Einwohner-Ort Erinnerungen über den MSV Duisburg, Schalke 04 und die Fußball-Nationalmannschaft eingesammelt. Devotionalien einer Fußball-Karriere gesichtet. Wir haben einen Song gehört, den die ziemlich bekannte Popgruppe „Wind“ über Dietz produziert hat. Und dann haben wir über die schönste Zeit in Bernard Dietz’ wundersamer Fußball-Karriere gesprochen: als er Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft wurde.

Bernard Dietz wird 70 - „Pack Mutter ein, ich bin Kapitän!“
Foto: dpa

Dietz Augen sind jetzt weit aufgerissen, er lacht, er ist im Fluss, die kleine rote Brille wackelt auf dem Nasenflügel. Er redet gerne über die alten Zeiten. Über die Jahre beim DFB und seine 53 Länderspiele. Er erzählt von diesem Moment, als der Trainer Jupp Derwall ihn 1978 zum Kapitän macht: „Eigentlich war Sepp Maier gesetzt, aber der blieb bei dem Test gegen die Niederlande in Düsseldorf draußen. Dann wurde mir klar: Ich habe jetzt ja die Binde! Ich hab’ meine Frau angerufen und gesagt: ,Pack die Mutter mit ein, ich bin der Kapitän!’ Meine Mutter hatte vorher nie ein Spiel von mir im Stadion gesehen. Ich hab’ die Binde so hoch gehalten, ich hatte einen Krampf im Arm.“

„Unvorstellbar“ findet Dietz das noch heute, fast 40 Jahre später. Und eigentlich ist das eine Einschätzung, die sich durch den ganzen Vormittag zieht: Dass da einer zur Kultfigur geworden ist mit einer wahnwitzigen Karriere, der dafür gar nicht vorgesehen war: Bernard Dietz ist Schlosser, er verliert mit 18 zwei Finger in einer Maschine, in ihm bricht eine Welt zusammen. Aber aufgeben ist nicht — Wesensmerkmal und westfälische Grundausstattung. Erst mit 22 zieht er von Bockum-Hövel in die Profi-Welt, hat zuvor nie in einer Junioren-Auswahl gespielt. Acht Geschwister, drei davon im Weltkrieg gefallen, Vater Bergmann unter Tage, ganz unten. Und dann war Dietz schließlich ganz oben, am 22. Juni 1980 in Rom, als der Abwehrspieler aus Duisburg mit der Kapitänsbinde den EM-Pokal nach dem Finalsieg gegen Belgien in die Luft reckt.

Dietz schaut auf das schwarz-weiße Foto, das rahmenlos und gewellt unspektakulär in der DFB-Vitrine aus Eiche im hauseigenen Keller lehnt. Er nimmt es heraus und sagt mit ungläubigem Staunen einen Satz, der unwirklich wirkt, aber ehrlich ist: „Unglaublich, ich unter den ganzen Großen, mittendrin!“

Seine Frau Petra hat danach vom DFB einen Scheck über 2000 DM für einen Juwelier in Frankfurt erhalten. Beide lachen. Und schauen sich glücklich an. Bernard Dietz ist lebendes Understatement und sie seine andere Hälfte. Und das alles ist nicht stilisiert. Einfach Dietz. „Mein Vater hat mir noch vor seinem Tod gesagt: Junge, vergiss nie, woher du kommst. Das habe ich mir immer bewahrt“, erzählt er. Und sagt fast jeden Satz an diesem Tag, als müsse er genau das fortwährend beweisen. Wenn er vom Probetraining beim 1.FC Köln beim Trainer Merkle erzählt und „kaum glauben“ kann, als er mit Overath, Simmet und Manglitz in der Kabine sitzt. „Ich wäre gerne zum FC gewechselt, mein Vater kam aus Köln-Mülheim“, erinnert er sich. Aber dann wollte Köln Dietz nach Lünen verleihen, und Dietz war das dann „zu undurchsichtig“. Und so ist er zum MSV Duisburg gekommen.

Oder wenn er von der Nationalelf erzählt. „Eigentlich hat mir der Aufenthalt mit den besten Spielern Deutschlands immer die Energie für den schwierigen Alltag in Duisburg gegeben“, sagt er. Duisburg - dort, wo Dietz zum torgefährlichsten Abwehrspieler der deutschen Fußball-Geschichte geworden ist: 77 Tore. Mit den Zebras und Schalke ging es ständig gegen den Abstieg, so hat er 221 Mal verloren. So oft wie kein anderer Spieler bislang. Und kurios: Trotzdem gewann er beinahe in jedem Spiel gegen den FC Bayern. Einmal gewinnt er 6:3 gegen die Bayern, Dietz schießt vier Tore.

(Redakteur Olaf Kupfer mit Bernard Dietz (r.) beim Besuch. Foto: privat)

Aber es gab auch Tiefpunkte: Das Endspiel der EM 1976, als Dietz sich im Endspiel gegen Anton Panenkas Tschechen im Elfmeterschießen nicht zu schießen traute und eine Oberschenkelverletzung antäuschte. „Das ärgert mich noch heute“, sagte er. Vor allem, weil Uli Hoeneß verschoss und Deutschland verlor. Oder die Schmach von Cordoba 1978 bei der WM in Argentinien mit dem Ausscheiden gegen Österreich. „Wir waren kein Team“, sagt Dietz, der selbst allzeit ein vorbildlicher Teamspieler gewesen ist. „Es waren schlimme Wochen. Am Ende mussten wir noch mit den Österreichern zurück im Flugzeug nach Hause fliegen“, erinnert er sich.

Und auch sein Ende im Nationalteam, als 1982 Paul Breitner zurückgekehrt war, der Teamgeist schwand, Dietz irgendwann als Kapitän auf der Bank versauerte und nach einem kritischen Interview im „kicker“ keine Chance mehr von Derwall erhielt, gehört zu schlechteren Zeiten. Vergessen. Dietz ist mit sich im Reinen. Mit Breitner. Und damals auch mit Derwall. Sagt er.

Alles ist dokumentiert in diesem Keller, den er die „Schatztruhe“ nennt. Das erste Trikot aus Malta, wo er 1974 auf Beton sein erstes Länderspiel macht. Jerseys, Wimpel, Pokale, Fotos und Maskottchen. Und fast jedes seiner Länderspiele, aufgenommen auf VHS-Kassetten, die fein säuberlich abgelegt und per Hand beschriftet im Eichenschrank lagern. Ab und an schaut er sie sich mit Enkel Linus an, der von den fünf Enkelkindern am Fußball den größten Spaß gefunden hat. Dietz’ Augen leuchten. Mit Linus’ Vater, der als Lehrer arbeitet, hat er vor vielen Jahren eine Fußballschule gegründet. In den Schulferien sind die Dietz’ Trainer vieler Kinder.

Wir machen Bilder. Der Mann, der 1200 DM brutto im ersten Profijahr verdient hat und sein „Geld immer zusammengehalten hat“, setzt sich auf die Trainerbank aus dem alten Wedaustadion, die jetzt in seinem Garten steht — ein Fan hat sie ihm geschenkt. Der, den alle seit Kindheitstagen nur „Ennatz“ nennen, weil eine Freundin Bernard nicht aussprechen konnte. Es passt zu Dietz’ Charakter, dass der Name bis heute überlebt. Sogar das Maskottchen des MSV heißt so, die Duisburger Fans hatten das verlangt. Der MSV — das bleibt sein Verein.

Noch heute lebt er in jenem Haus, das er als junger Bundesligaspieler 1972 gebaut hat. Und ist stolz darauf. „Wir hatten ja am Anfang nichts.“ Er hat die Tochter des Vereinswirts aus Bockum-Hövel geheiratet. Auch als Trainer ist er bodenständig geblieben, bezeichnet die Zeit als Jugendcoach beim VfL Bochum als seine schönsten Trainerjahre und hat dabei ganz nebenbei ein Talent nach dem anderen in den Profibereich entsendet: Frank Fahrenhorst, Sebastian Schindzielorz, Paul Freier, Stefan Wächter oder Delron Buckley. „Meine Jungs“, sagt er.

Auch bei den Profis hat er immer mal wieder ausgeholfen, war aber beim zweiten Engagement in Bochum an den Eitelkeiten im großen Business und an Präsident Werner Altegoer verzweifelt. Und ist dann einfach gegangen. Dietz will bleiben, wie er ist. Jetzt spielt er lieber mit den Enkeln im Garten oder ist mal beim Jugendturnier dabei. Die kaputten Knie trainiert er im eigenen kleinen Schwimmbad im Garten, das er erbaut hat. „Ich hab hier bei allem mit angepackt“ sagt er. „Anders kann ich gar nicht.“

Bernard Dietz wird am Donnerstag 70 Jahre alt. Er wird diesen Geburtstag in einer Loge im Stadion des MSV Duisburg feiern. Mit Weggefährten und Freunden. Mit Ausschnitten aus einem Film, der gerade über ihn gedreht wird, die Dokumentation „Ennatz - Leben einer Fußball-Legende“. Kürzlich haben sie wieder gedreht in Duisburg. Auf dem Rasen, mit Werner Hansch als Kommentator. Sie haben eine alte Szene nachgestellt, und Dietz imitiert jetzt Hanschs Kommentar in diesem Wohnzimmer in Walstedde. Seine Stimme geht in die Höhe, er überschlägt sich fast dabei. Dietz ist selbst begeistert. Von allem, was er erreicht hat. Er hatte nicht damit gerechnet.

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