„90 Minuten Freiheit“ - Häftlinge auf dem Fußballplatz

Hamburg (dpa) - In der Gefängnismannschaft Eintracht Fuhlsbüttel spielen Mörder, Totschläger und Drogendealer. Die Gefangenen sollen über den Fußball Disziplin lernen. Doch für die Häftlinge sind die Spiele in der Hamburger Kreisklasse aus einem anderen Grund etwas ganz Besonderes.

Eng führt Spielmacher Milan den Ball am Fuß. Sein flacher Pass landet bei Linksaußen Adnan, der sofort in Richtung Tor zieht. Der Ball scheint an seinem Fuß zu kleben, er sprintet, zieht am ersten Gegenspieler vorbei, lässt den zweiten ins Leere grätschen. Schlamm spritzt unter seinen Stollen hervor. Regen rinnt ihm übers Gesicht. Er zielt, schießt - wuchtig schlägt sein Linksschuss im rechten Toreck ein. Jubelnd reißt er die Arme empor und dreht ab. „Das hier ist das Highlight der Woche“, sagt der 26-Jährige erfreut.

Trotz herausragender Anlagen spielen Flügelflitzer Adnan und sein kongenialer Passgeber Milan für einen Verein, der wenig Glamour bietet, grundsätzlich keine Freigabe erteilt, Gegner zwar empfangen darf, aber niemals zu Auswärtsspielen reist: Eintracht Fuhlsbüttel. Die Gefängnismannschaft spielt in der untersten Hamburger Liga, Kreisklasse, Gruppe 2. Die Mitspieler: Mörder, Totschläger und Drogendealer. Allesamt Insassen von Haus II, dem Trakt für die „schweren Fälle“ des berüchtigten Hamburger Knasts „Santa Fu“.

Gespielt wird auf einem Ascheplatz im Gefängnishof. Ringsum: graue Mauern, Stacheldraht, Zellblöcke. Die „Fans“ am Spielfeldrand: Ein paar Wärter, etliche Krähen, ein Dutzend Mithäftlinge, die gerade Freistunde haben. Auch hinter zahlreichen vergitterten Fenstern lugen Gesichter hervor. „Die Fußballer hier leben immer von mittwochs bis sonntags“, berichtet Adnan. Mittwochs wird trainiert, sonntags sind die Meisterschaftsspiele angesetzt. Dazwischen sehen die meisten Tage gleich aus. „Viele bei uns trauern schon wegen der Winterpause.“

An diesem Sonntagmorgen geht es für den Tabellenführer gegen den Norderstedter SV. Schon um kurz nach acht stehen die Hobby-Kicker aus Schleswig-Holstein vor den Gefängnistoren der Hansestadt. Sie lassen Körperkontrollen über sich ergehen, Sporttaschen durchleuchten, geben Handys und Ausweise ab. Die meisten von ihnen haben schon einmal hier gespielt. „Es gibt bei uns niemanden, der sagt, 'weil`s im Gefängnis ist, habe ich keine Lust'“, betont Trainer Bruno Steen. Und ergänzt: „Die Gefangenen sind ja auch nur Menschen.“

Vor dem Anpfiff verabschiedet Eintracht-Trainer Gerhard Mewes - gedrungene Gestalt, schmaler Mund, zerfurchte Stirn - einen der Gefangenen aus seiner Mannschaft. Dicht aneinandergedrängt stehen die Männer in den schwarz-weiß gestreiften Trikots am Mittelkreis und lauschen seiner rauen Stimme. „Wir wollen heute einen Mann verabschieden, der sich hier als Mensch bewährt hat, der eine Säule dieser Mannschaft geworden ist“, sagt der 69-Jährige. Er schlingt die Arme um einen bulligen Mann, dem er gerade mal bis zur Brust reicht, und drückt ihn an sich. Nach mehr als sechs Jahren wird Ruslan die Knast-Kicker verlassen. Beim nächsten Spiel wird er wieder in Freiheit sein. Er schaut seinem Trainer lange in die Augen.

Mewes ist von Anfang an dabei, seit 1980, als die Eintracht als bundesweiter Modellversuch ins Leben gerufen wurde. Mittlerweile gibt es immer mehr dieser Projekte, unter anderem in der JVA Darmstadt-Eberstadt. Über den Sport soll den Gefangenen Fairplay, Anstand und Regeltreue beigebracht werden. Mewes: „Auf dem Platz ist der Schiedsrichter das Gesetz.“ Das Gesetz ist heute schlaksig und trägt eine kleine Nickelbrille. Es steckt die Pfeife in den Mund und bläst kräftig hinein - Anpfiff. Inzwischen nieselt es, auf dem Platz bilden sich schimmernde Pfützen, der Wind pfeift bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Einige der Spieler tragen Handschuhe.

Flügelflitzer Adnan scheint davon nichts mitzubekommen. Obwohl sein Knie bandagiert ist - neun Wochen lang musste er deswegen pausieren - jagt er fast jedem Ball hinterher, trifft in der 35. Minute zum zweiten Mal. Laut lachend springt er einem Zuschauer an der Außenlinie in die Arme. „In den 90 Minuten auf dem Platz haben wir den Kopf frei, haben keine Sorgen“, erklärt er.

Adnan ist seit fast anderthalb Jahren Leistungsträger der Eintracht. Als er verletzt ausfiel, verlor die Mannschaft als bis dahin ungeschlagener Tabellenführer drei Spiele. „Ich habe mein ganzes Leben lang nur Fußball gespielt“, sagt er. Als Vierjähriger kam er aus Syrien nach Deutschland, wuchs in der norddeutschen Provinz auf.

„Alle nannten mich den Balljungen, ich bin immer nur mit einem Ball am Fuß zur Schule gelaufen.“ Als 17-Jähriger ging er ins Fußballinternat des spanischen Erstligisten Celta Vigo, sollte einen Vertrag im zweiten Team unterschreiben. Als daraus nichts wurde, musste er zurück nach Deutschland. Mittlerweile war aber in seiner alten Oberliga-Mannschaft kein Platz mehr für ihn. „Da habe ich mir gedacht, 'scheiß auf alles', und versucht, schnelles Geld zu machen.“ Wegen schweren Raubs mit Waffenbesitz sitzt er jetzt in „Santa Fu“.

Mitte der zweiten Halbzeit. Überlegen schieben sich die Eintracht-Kicker den Ball zu. Ihre schwarz-weißen Sträflingsstreifen sind über und über mit Schlamm bedeckt. Sturmspitze Marcus hat gerade mit einem platzierten Schuss zum 3:1 getroffen. Breit lächelnd tänzelt der hochgewachsene Stürmer über den Platz. Nach seiner Haft will JVA-Sportobmann Michael Schäfer ihn in der zweiten oder dritten Mannschaft eines Bundesligisten unterbringen. „Wir haben da schon Kontakte aufgebaut.“ Über den Fußball soll den Spielern nach ihrer Haft ein neues Umfeld und eine neue Perspektive geschaffen werden.

Noch fünf Minuten sind zu spielen. Die Eintracht führt bereits mit 4:1. Ein Gäste-Verteidiger bolzt den Ball unkontrolliert aus dem eigenen Strafraum und über die hohe Mauer. „Den muss ich holen, da kommt jetzt keiner mehr dran“, grinst Schäfer und trabt mit einem großen Schlüssel in der Hand los. Beim Abpfiff steht es 5:2. Eintracht Fuhlsbüttel liegt wieder auf Meisterschaftskurs - wie in der Vorsaison. Wie insgesamt viermal in den vergangenen sieben Jahren. Aufsteigen darf die Mannschaft allerdings nicht.

„Die haben zum Schluss ein bisschen aufgemacht, da fallen noch ein paar Tore“, erklärt Spielmacher Milan. Wegen Drogenhandels sitzt er noch bis 2013 in Fuhlsbüttel. „Fast jeder Tag ist hier gleich“, sagt er. „Aber während des Spiels, da vergisst man, dass man im Knast ist.“ Dann muss er vom Platz und zurück ins rote Backsteingebäude.

„Fußball ist hier ein Privileg“, sagt Schäfer. Harte Fouls oder Ausschreitungen: Fehlanzeige. Den Spielern sei klar, dass bei einem Vorfall sofort Schluss mit dem Fußball in Fuhlsbüttel sei. Auch Fehlverhalten im Knastalltag wird schon mal mit Spielverbot geahndet.

Auf dem Weg nach draußen lotst Schäfer die Gastmannschaft durch schwere Eisentüren. „Ich finde, das ist hier die fairste Truppe der Liga“, sagt Norderstedts Kapitän Carsten Schilling, blauer Trainingsanzug, Sporttasche über der Schulter. „Das war ein fast normales Fußballspiel.“ Die letzte Eisentür fällt mit einem harten metallischen Klicken hinter ihm ins Schloss. Er blickt hinter sich: „Aber man ist dann doch froh, wenn man wieder rauskommt.“

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