Die Stadionkatastrophe von Sheffield: Weit weg und doch ganz nah

Die Hillsborough-Katastrophe forderte 96 Todesopfer. 20 Jahre danach kämpft eine Mutter noch immer vor Gericht.

Sheffield. Tiefe Falten umspielen Anne Williams Augen. Es sind Augen, die viel geweint haben in den vergangenen 20 Jahren. Die Zigarettenschachtel, die vor ihr auf dem Tisch liegt, gibt Halt. Nervös lässt sie die Schachtel zwischen den Fingern kreisen, als sie von ihrem Sohn Kevin erzählt. "Mach dir keine Sorgen, Mum, 3:0." Das waren seine letzten Worte, als er damals das Haus verließ. So erzählt es Anne Williams.

Wie 20000 andere Liverpool-Fans war ihr 15-jähriger Sohn zum Pokalhalbfinale gegen Nottingham Forest nach Sheffield gefahren. Was als Fußballausflug ins Hillsborough-Stadion begann, endete am 15. April 1989 mit 96 Opfern und 730 Verletzten in der größten Sportkatastrophe der Geschichte Großbritanniens. Kevin Williams kehrte nicht nach Hause zurück. Sein Nachmittag endete am Zaun des Hillsborough-Stadions. Zerquetscht, erstickt, wie die meisten Opfer.

Heute weiß man, die Polizei war nie Herr der Lage. Die Liverpool-Fans wurden durch ein einziges enges Tor getrieben, wie Vieh durch ein Gatter, und in einen bereits überfüllten Block gedrückt. Zu spät realisierte die Polizei, was sich am Zaun abspielte. Das Öffnen eines weiteren Gitters oder der Stadionzäune hätte das Unglück verhindern können. Stattdessen drückten die anstehenden Fans diejenigen, die weiter vorne standen, zusammen. Kevin Williams stand ganz vorne. Erst chancenlos, dann atemlos und schließlich leblos.

Für Anne Williams markiert das Unglück von Hillsborough einen persönlichen Wendepunkt. Ein Wendepunkt, der auch im Gesicht des englischen Fußballs tiefe Spuren hinterlassen hat. Als unmittelbare Folge von Hillsborough wurden Stehplätze in den Stadien abgeschafft.

Auch an der Liverpooler Anfield Road. Morgen sind wieder Tausende unterwegs. Alle tragen sie ihre roten Trikots. Doch anders als an einem Spieltag werden sie nicht lachen, singen oder scherzen. Jeder Fan wird einen Blumenstrauß dabei haben. An jedem 15. April werden in Liverpool mehr Blumen verkauft als am Valentinstag.

Sie landen am Denkmal für die Opfer der Katastrophe, direkt an den Shankly-Gates des Stadions. Ninety-six, 96. Die Zahl der Opfer schwebt über allem. Die Geschehnisse sind greifbar nahe.

In den Kiosken der Stadt hängen wieder die Boykottaufrufe gegen das Boulevardblatt "Sun". Auch 20 Jahre nach Hillsborough verzeiht kein Fan die Schlagzeilen von damals. Die Zeitung hatte behauptet, dass Liverpool-Fans die Toten bestohlen und die Rettungsarbeiten behindert hätten, aus Opfern Tätern gemacht. Die Anschuldigungen beruhten auf den falschen Angaben eines Polizisten.

Wurden vor zwei Jahrzehnten in Liverpool noch täglich mehr als 250000 Ausgaben der "Sun" verkauft, sind es heute noch 12000. Viele Zeitungsläden weigern sich immer noch strikt, das Boulevardblatt ins Sortiment zu nehmen. Dietmar Hamann hat sieben Jahre beim FC Liverpool gespielt: "Jeder Spieler lernt sofort, wie unheimlich wichtig dieser Tag für jeden Fan ist."

Beim Gedenkgottesdienst ist die gesamte Mannschaft anwesend. Wie in jedem Jahr. Es gibt bis heute keinen Verantwortlichen, der zur Rechenschaft für die Opfer von Sheffield gezogen wurde. Alle Verfahren wurden früher oder später eingestellt.

Höhere Gewalt, Unglück. Es ist diese Machtlosigkeit, dieser taube Schmerz, der Anne Williams für ihren Sohn kämpfen lässt. Die Geschehnisse von Hillsborough hat sie in zwei Büchern verarbeitet. Sie hat Augenzeugen ausfindig gemacht, forensische Gutachten erstellen lassen, Unsummen für Anwälte ausgegeben.

Jahrelang hat sie für eine Wiederaufnahme der Untersuchungen der Vorgänge in Hillsborough gekämpft: "Ich bin nur belogen worden." Heute weiß sie, dass Kevin zwischen 15.15 und 16 Uhr ohne medizinische Versorgung war. Zahlreiche Krankenwagen wurden nicht zu den Opfern durchgelassen - aus Angst vor Ausschreitungen. Als offiziellen Todeszeitpunkt durch Ersticken geben die Behörden 15.15 Uhr an.

Es gibt aber Zeugen, die erklärt haben, dass Kevin um 15.30 Uhr noch geatmet hat. "Mein Sohn ist unnötig gestorben. Es war kein Unfall, es war schlechtes Management der Behörden." Das möchte sie sich vor Gericht bestätigen lassen. Bisher erfolglos im britischen Justizsystem. Der Europäische Gerichtshof hat ihren Fall dagegen akzeptiert.

Kevins älterer Bruder Michael besitzt immer noch eine Dauerkarte. Morgen wird er seine Mutter beim schweren Gang zum Gottesdienst begleiten. "Wenn du durch einen Sturm gehst, gehe erhobenen Hauptes. Und habe keine Angst vor der Dunkelheit", wird der Kirchenchor singen: "You´ll never walk alone."

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