Das "Wunder von Bern" lebt im Hotelzimmer weiter

Warum ein Hoteldirektor in Spiez die Erinnerung an das „Wunder von Bern“ anno 1954 pflegt.

Spiez. Mist, das Wetter spielt nicht mit. Der Thuner See glänzt in der Sonne, über dem Dach des Hotel Belvédère in Spiez strahlt der blaue Himmel. Perfekt wäre diese Kulisse im Nieselregen aus tiefhängenden Wolken - Fritz-Walter-Wetter wie am 4. Juli 1954, als die deutsche Nationalmannschaft von hier mit dem Bus ins Wankdorfstadion nach Basel fuhr, um Weltmeister zu werden.

Es war der Tag, an dem aus elf Fußballern Helden wurden. Und das Wir-Gefühl, das sie zur größten Sensation der WM-Geschichte trieb, entstand in diesem Hotel: Der Geist von Spiez, so will es die Legende, machte das Wunder von Bern erst möglich.

Seit 100 Jahren gibt es das Belvédère, das Haus im Belle-Epoque-Stil hat den gediegenen Charme eines Hotels mit Vergangenheit und Geschichte.

Auf den ersten Blick ist vom Mythos der 54-er-Weltmeister kaum etwas zu sehen, nur an der Tür zur verglasten Terasse hängt ein Bild der deutschen Mannschaft und allen Unterschriften, darüber die markante Handschrift von Bundestrainer Sepp Herberger:

"Dem Strandhotel Belvédère, das während der WM 1954 unser Hauptquartier war und in dem wir so hervorragend betreut wurden, in dankbarer Verbundenheit gewidmet".

Als Markus Schneider 1999 die Leitung des Hotels übernahm, war dieses Foto die einzige Erinnerung an den Aufenthalt der deutschen Mannschaft.

Schneider ist der Mann, der das Belvédère behutsam zu einer Wallfahrtsstätte für deutsche Fußballfreunde gemacht hat.

Hunderte kommen Jahr für Jahr und wollen ein Zimmer in der 3. Etage - dort hat damals die deutsche Mannnschaft gewohnt. Unter jeder Zimmernummer hängt ein Messingschild mit den Namen der Spieler, die hier 1954 drei Wochen lang gelebt haben.

Zimmer 303 ist besonders begehrt: Hier hatte der Bundestrainer seinen sensiblen Kapitän Fritz Walter mit der urwüchsigen Frohnatur Helmut Rahn untergebracht; einer der vielen Mosaiksteine des Erfolges.

Auch die Niesen-Bar, in der der zunächst nicht für die erste Elf nominierte "Boss" Rahn seinen Frust mit ein paar Bierchen heruntergespült hat, gibt es noch.

Und gab es den "Geist von Spiez" tatsächlich? Schneider, Jahrgang 1969, hält ein Plädoyer, als sei er selbst dabei gewesen - bei den Mannschaftssitzungen, bei den Spaziergängen von Herberger mit seinem Kapitän an der Uferpromenade, beim Training im nahen Thun:

"Die deutschen Spieler kamen als Amateure aus dem Deutschland der Nachkriegszeit in dieses Paradies und haben sich ihrem Trainer noch mehr verpflichtet gefühlt - und genau das wollte Herberger erreichen. Ottmar Walter hat zu mir gesagt: Das war für uns wie das Land, in dem Milch und Honig fließen - wir hätten alles getan und auch gespielt, wenn wir Geld dafür hätten zahlen müssen."

Als sich das "Wunder von Bern" zum fünfzigsten Mal jährte, trug Schneider eine Ausstellung mit Originalstücken zusammen; es gab Pauschal-Arrangements mit Besichtigungen des Wankdorfstadions (das damals eine Baustelle war) und dem Siegermenü von 1954: Forelle, Entrecôte double und Vacherin glacé.

"Ich habe noch so viele erwachsene Menschen weinen gesehen wie in dieser Ausstellung", erinnert sich Schneider, "spätestens seitdem weiß ich, dass wir eine Kultstätte des deutschen Fußballs sind."

Eine Kultstätte, von der der DFB offenbar nicht mehr viel wissen will. Den heutigen Ansprüchen einer Fußballnationalmannschaft genügt das Belvédère - das immerhin vier Sterne und ein Restaurant der Spitzenklasse hat - längst nicht mehr.

In einem Brief an den DFB schlug Schneider vor, die Nationalmannschaft könne ja kurz Station machen und eine Prise vom "Geist von Spiez" schnuppern; außerdem bot er das Belvédère als Hotel für Sponsoren und Funktionäre an: "Ich habe nicht mal eine Antwort bekommen."

Aber was soll es? Schneider freut sich daran, dass das Belvedere hilft, den Mythos vom größten deutschen Fußballsieg ohne emotionale Reibungsverluste von Generation zu Generation weiterzugeben:

"Es kommen Väter mit ihren Söhnen, zeigen denen das Hotel und erzählen von 1954 - so, wie es ihr Vater mit ihnen gemacht hat."

In seinen Memoiren hat Herberger immer wieder betont, dass "der ruhige Flecken Spiezer Erde womöglich den entscheidenden Vorteil gegenüber den Ungarn brachte". Wo die Ungarn gewohnt haben?

Im mondänen "Hotel Krone", in der Innenstadt von Solothurn, einem der ältesten Schweizer Hotels. Dort, wo Casanova verführt und Napoleon gerastet hat, sollen die Ungarn um Ferenc Puskas schon vor dem Finale manches Glas geleert haben.

Aber dann kamen die Deutschen, beseelt vom "Geist vom Spiez". Und begleitet von jenem Nieselregen, bei dem ihr großer Kapitän Fritz Walter zur Höchstform aufblühte.

So kann heute über dem Thuner See die Sonne ruhig strahlen - wir schließen die Augen, spüren die Regentropfen den Geruch feuchten Rasens in der Nase und hören den Bundestrainer erleichtert sagen: "Männer, des isch dem Fritz sei Wedder."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort