Ein Tag in Lüttich: Klein-Frankreich an der Maas

Wer gerne gut isst, begeistert Krimis mit Kommissar Maigret liest, überhaupt alles Französische liebt und freudig riesige Treppen erklimmt, der findet im nahen Lüttich sein Glück.

Lüttich. Der erste Eindruck schockiert. Auf einer vierspurigen Schnellstraße rollt man am Fluss Maas entlang. Von Idylle keine Spur. Hafenanlagen, heruntergekommene Industriegebäude. Wenn man glücklich kurz vor dem Zentrum - auf dem Boulevard de la Constitution ist immer etwas frei - einen Parkplatz gefunden hat und sich in Richtung Kathedrale orientiert, führt der Weg an halb verfallenen Häusern vorbei, in denen oft nur noch das Erdgeschoss mit einem Schnellimbiss oder einem Billigshop belegt ist. Aus fragwürdigen engen Quergassen huschen verlegen dreinblickende ältere Herren mit hochgeschlagenen Mantelkrägen heraus. Diese angeschmuddelte Stadt soll das "kleine Frankreich an der Maas" sein, wie es der Historiker Jules Michele formulierte?

Es stimmt. Lüttich oder Liège, wie die wallonische Stadt wirklich heißt, ist mehr als einen Tagesbesuch wert. Ihr Charme erschließt sich auf den zweiten Blick. Und den meisten deutschen Touristen gelingt das wahrscheinlich nie, weil sie den Fehler machen, wegen des legendären riesigen Flohmarktes am Sonntag nach Lüttich zu fahren. Was falsch ist, denn Liège zeigt seine Reize besser an Werktagen, wenn das Leben pulsiert und die Geschäfte geöffnet sind. Ein paar rudimentäre französische Sprachkenntnisse sind von Vorteil, obwohl die deutschsprachige Region Belgiens nur 30 Kilometer entfernt ist.

Als die geografisch dem Rheinland am nächsten liegende französischsprachige Großstadt bietet sie ein kulinarisches Angebot der Sonderklasse. Fast in jeder Straße gibt es kleine Restaurants mit attraktiven Menüs. Dies gilt besonders für das volkstümliche alte Viertel Outremeuse, gleich gegenüber dem Zentrum auf einer Insel. Einst lebten hier neben Gerbern rebellische Menschen in einer "freien Republik". In diesem Viertel stößt man auch automatisch auch auf Spuren des wahrscheinlich bekanntesten Lüttichers, Schriftsteller und Maigret-Erfinder Georges Simenon.

Wer Simenons Krimis kennt, ahnt in Outremeuse, warum er seinen Kommissar immer wieder mal von Paris nach Belgien zum Ermitteln fahren ließ. Der Stadtteil-Kirche Saint-Pholien hat er einen ganzen Kriminalroman gewidmet. Bis vor wenigen Jahren gab es direkt neben diesem Gotteshaus eine bemerkenswerte anitquarische Buchhandlung, die ausschließlich Maigret-Krimis einschließlich Sekundärlitaratur dazu anbot. Dieses Paradies für Krimifreunde ist leider verschwunden, dennoch kommen die Fans auf ihre Kosten, hat ihnen doch die Stadt Lüttich extra einen Simenon-Rundweg angelegt und organisiert auch Themenführung.

Wer wegen solcher Spaziergänge keine Zeit für Restaurantbesuche erübrigen will, der kann anders klar kommen. Angefangen von leckeren Waffeln überbieten sich die Lütticher Patisserien mit ihren wunderbar süßen Kreationen. Mehrere davon gibt es in der Rue Saint-Paul, aber auch in anderen Gassen rund um die Kathedrale Saint-Paul (deren Schatzkammer und Kreuzgang übrigens auch einen Besuch wert sind).

Hochfliegende Schokoladenträume verwirklicht das Geschäft Galler in der Fußgängerzone "Le Carre", in der Nähe des westlichen Ausgangs der Jugendstil-Passage Lemonnier, die noch den Geist der 1830er-Jahre vermittelt. Ein unglaubliches Angebot an französischen Rohmilchkäsen, wie sie sich selbst in Paris nicht in jedem Stadtviertel findet, bietet ein fast immer voller kleiner Laden in der Rue Saint-Remy.

Insgesamt verteilen sich unzählige Feinkosthändler, von deren Qualität und Liebe zum Produkt man in den meisten deutschen Städten nur träumen kann, über die gesamte Stadt. Ein besonderer Tipp betrifft Liebhaber arabischer Küche: Die Metzger südlich der "place du marche" produzieren die beste Merguez - kleine, scharfe, arabische Lammwürste, die man vor allem in Frankreich gerne zum Couscous verzehrt.

An klassischeren touristischen Zielen herrscht in Lüttich kein Mangel. Neben der Kathedrale und einer Reihe von Museen lassen sich immer wieder architektonische Juwele entdecken, man muss ich allerdings stets an einer Reihe grausamer Bausünden zu ihnen durchkämpfen. Ein Erlebnis ganz besonderer Art bietet die unglaublich lange Treppe Montagne de Bueren, die von der Altstadt - Ausgangspunkt ist neben dem Musée d’Art Wallon - zu höhere liegenden Wohnvierteln hinauf führt. Neben dem schwer atmenden Touristen erklimmen auch immer wieder einheimische Einkaufende mit ihren Taschen ganz selbstverständlich die 374 Stufen. Allein der Weg ist ein Erlebnis, die Aussicht krönt dieses noch.

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