Starker Frost bringt die Alster zum Beben

Bange Frage bei den Nordlichtern: Ist das Eis auf der Alster dick genug für Schlittschuhfahrer und Budenzauberer?

Hamburg. Sie tanzen, sie flirten, sie lachen. Sie rutschen aus auf blankem Eis - und lachen immer noch. Ausgelassen feiern sie in klirrender Kälte bis tief in die Nacht hinein. Wenn die Alster zufriert, tauen die Hamburger auf. Ein ganzes Wochenende lang. Ein Phänomen, das man den angeblich so steifen Hanseaten gar nicht zutraut. 1997 war es das letzte Mal, dass rund eine Million Menschen täglich die 1,6 Quadratkilometer große Außenalster zum Beben brachten. Als aufgestauter Fluss wird die Alster zum See mitten in der Stadt durch Lombards- und Kennedybrücke in Binnen- und Außenalster unterteilt.

Seit Jahrhunderten besitzt die gefrorene Alster eine magische Anziehungskraft. 1816 versuchte die Polizei noch, dem "unvernünftigen Treiben" mit Arreststrafe ein Ende zu bereiten. Ohne großen Erfolg. Heute ist sie als Freund und Helfer mit im Einsatz. Auch das eigentliche Eisvergnügen hat Tradition. Das erste Mal wurde es am 19. Januar 1862 mit Fackeln, bunten Laternen und bengalischem Feuer gefeiert. Inzwischen verlangt die Umweltbehörde, dass das "tragfähige Kerneis" 20 Zentimeter statt wie zuvor 15 Zentimeter dick sein muss. Denn häufig waren die Besucher dank Glühwein und Punsch so heftig in Wallung geraten, dass gefährliche Risse entstanden. Damit sich die Massen entzerren, wurde inzwischen die Zahl der Stände von etwa 350 drastisch auf 150 reduziert, auch darf keine rhythmisch betonte Musik mehr gespielt werden.

22. Januar 2010, 12 Uhr. Wilhelm Mähl, Gewässeraufseher bei der Umweltbehörde, prüft Eisstärke und Konsistenz. Trügerisch sicher glänzt das Eis, doch der Experte ist skeptisch. Er bohrt ein Loch, hakt eine Messlatte ein und stellt fest: "Zum Feiern ist es noch zu dünn." Um sicher zu gehen, wird bei Dauerfrost vor einem möglichen Eisvergnügen schließlich an 50 Stellen gemessen. Ist das Eis dick genug, beginnen drei Tage vorher die Vorbereitungen. Die Nordlicher hoffen auf das erste Februar-Wochenende.

Von überall her kommen Standbetreiber angereist. Denn den Hamburgern sind im Eisrausch selbst Wucherpreise und manch billiger Fusel egal. Auch das nahe Krankenhaus St. Georg wird informiert, damit es sich einen zusätzlichen Gipsvorrat zulegt. Die Anzahl der Brüche ist beachtlich. Und falls mal jemand einbricht? "Wir können dank aufblasbarer Schlauchboote mit Steckleitern in kürzester Zeit Soforthilfe leisten", versichert André Braker von der Hamburger Feuerwehr. Doch bisher kamen sie noch nie zum Einsatz. "Einmal hatte ein Lehrer mitten auf dem Eis ein Lagerfeuer entfacht, um mit 20 Schülern dort über Nacht zu campieren. Dass wir sofort einschritten, konnte er überhaupt nicht verstehen", berichtet Peter Schulz, als ehemaliger Referatsleiter für Gewässerbewirtschaftung der Umweltbehörde auch "Eispapst" genannt.

Zwischen 1985 und 1997, in denen das große Open-air-Fest insgesamt zehnmal stattfand, hat er Unglaubliches erlebt: "Eines Morgens trafen 50 Finnen mit einem Charterflugzeug ein, um eine Runde Golf auf der Alster zu spielen und abends wieder zurück zu fliegen." Und dann kam es noch zu einer höllischen Auseinandersetzung mit einem Gesandten des Himmels: "Ein Pfarrer wollte für ein paar Jugendliche eine Disco auf dem Eis veranstalten. Wir warnten ihn, dass es der Belastung nicht standhalten würde. Beleidigt zog er weiter zu einem zugefrorenen Teich. Und es dauerte keine Viertelstunde, bis es dort krachte. Zum Glück ist niemand eingebrochen." Und dann war da noch jener Hamburger Friseur, der mit seinem Auto die Alster überquerte. Die Strafe von damals 500 DM nahm er gern in Kauf. Das sei ihm der Spaß wert gewesen, meinte er. "Irrational, völlig irrational", sagt der "Eispapst"- und es klingt fast ein bisschen anerkennend.

Peter Schulz, Umweltbehörde

Dann berichtet er von der Kehrseite der Medaille. Von 100 Tonnen Müll, die entsorgt werden müssen, bevor das Eis zu Wasser wird. Von ganzen Ständen samt Champagner, die einfach zurückgelassen werden. Von Dixi-Klos, die überall am Ufer auf- und wieder abgebaut werden müssen. Von Einsätzen der Feuerwehr und des Deutschen Roten Kreuzes. Allein die Wasserschutzpolizei ist mit bis zu 50 Mann unterwegs. "Gluck, gluck, weg waren sie", sagt der Experte lachend und meint damit die Stromaggregate und Backöfen, die sich an den Ständen durch das Eis geschmolzen haben.

Der Menschenstrom schlängelt sich von einem Ufer zum anderen, Kapellen marschieren auf, Hunde tollen zwischen Langläufern, Schlittschuhfahrern und Spaziergängern. Der Fantasie der entfesselten Hanseaten ist keine Grenze gesetzt.

"Einige Wahnsinnige hacken ein Loch ins Eis geschlagen, um ein Bad zu nehmen. Oder sie sind mit verrückten Transportmitteln unterwegs", erinnert sich Peter Schulz. "Auf Skiern, die von Pferden, auf Rodeln und in Handwagen, die von Ponys gezogen werden. Surfer schrauben Kufen unter ihre Bretter und lassen sich vom Segel oder vom Fallschirm ziehen. Nur die Starterlaubnis für ein Kleinflugzeug für Rundflüge von der Alster aus haben wir kategorisch verweigert."

Wie sehr die Hanseaten den Wintersport lieben, zeigt schon, dass statt der üblichen Osterferien die Hamburger Schüler in die "Skiferien" starten, die bereits vor Ostern wieder enden (in diesem Jahr vom 8. bis 20. März).

Auch ist der Verband Hamburger Skivereine mit 18 Vereinen und insgesamt 1800 Mitgliedern einer der stärksten Deutschlands. Am 30. Januar findet am Patscherkofel in Innsbruck die offene alpine Hamburger Skimeisterschaft statt. Zum Training geht es in die nahe Skihalle Wittenburg oder in den Snowdome in Bispingen. "Ski und Rodel gut" heißt es auch in Harburger Bergen.

Und wenn das Eis auf den Gewässern noch nicht trägt, geht es auf vier großen Eisbahnen zum Schlittschuhlaufen - die beliebteste ist die Eisbahn bei "Planten un Blomen". So heiß auf’s Eis sind die Hamburger, dass ihr Eisvergnügen auf der Außenalster jedes Mal zu einer großartigen Mega-Party wird - für alle Generationen.

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass es in diesem Winter mal wieder klappt. Dann wird auch Peter Schulz wieder aufs Eis gehen, diesmal ganz entspannt.

Er wird genüsslich seine Schlittschuhe anschnallen und stolz den Blick auf die großartige Silhouette seiner Stadt genießen. "Am liebsten, wenn es so richtig klirrend kalt ist", sagt der Mann, den sie den "Eispapst" nennen.

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