Rum, Sklaven und Piraten

Auf Martinique sind französische Traditionen so allgegenwärtig wie der Rum. Auch ein lange verdrängtes Kapitel der Inselgeschichte ist inzwischen zu einer Touristenattraktion geworden.

Der hohe Lehnstuhl aus dunklem Holz steht so einladend gleich hinter der Haustür wie schon vor 130 Jahren. Heutigen Sitzmöbeln hat er allerdings eine praktische Ergänzung voraus. François Jock, der Journalisten aus Europa seine Heimat-Insel Martinique schmackhaft machen will, lässt sich breit grinsend darauf nieder und klappt die Armlehnen mit einem Scharnier auf die doppelte Länge aus. „Man legte seine Reitstiefel darauf, damit das Personal sie einfacher ausziehen konnte“, erklärt der Insulaner begeistert. Wer wie Homère Clément gegen Ende des 19. Jahrhunderts über 160 Hektar Land mit üppig sprießenden Zuckerrohrstauden gebot, der war in der tropischen Hitze allenfalls in seinem mit ständigem Luftzug durch die Fensterlamellen gekühlten Haus zu Fuß unterwegs. Auf einem Hügel über dem Anwesen vermittelt das weiße Landhaus des Zuckerbarons im kreolischen Stil heute als geschütztes Baudenkmal den etwas schwülstigen Lebensstil der weißen Insel-Bohème, die einst mit ihren üppigen Einkünften aus der Rum-Produktion französisches Savoir-vivre in die 7000 Kilometer von Paris entfernte Karibik importierte.

Die rar gewordenen Tropfen aus Cléments ehemaliger Produktion erfreuen sich übrigens noch heute enormer Beliebtheit. 2017 wechselte eine Flasche des Jahrgangs 1966 — es gibt davon nur 40 Liter — für 100 000 Euro den Besitzer und gilt bis dato als teuerster Rum der Welt. Die Holländer hatten den Franzosen das Zuckerrohr im 17. Jahrhundert aus Brasilien mitgebracht. Ursprünglich war der destillierte Zuckersaft nur als Desinfektionsmittel gedacht. Doch der Durst der Welt ließ zeitweise 700 Destillen auf der gerade mal 70 Kilometer langen und 40 Kilometer breiten Insel aus dem Boden schießen. Heute sorgt noch rund ein Dutzend von ihnen zwischen Januar und Juni dafür, dass der begehrte braune Rum, mindestens drei Jahre in Eichenfässern gereift, nicht versiegt.

Rum, Sklaven und Piraten
Foto: Martin Wein

Während auf anderen Inseln der Rum auch aus der überschüssigen Melasse gewonnen wird, kommt auf Martinique dazu ausschließlich der gepresste Zuckerrohrsaft in die Destillier-Kessel. Nur den lange gereiften alten Rum trinkt man pur. Sonst genießt man ihn als kleinen Tipunch mit einem Stück Würfelzucker und Limette oder als Planteur mit Fruchtsäften und Eis. In der Weihnachtszeit gibt es dann süßen „Shrubb“ mit starkem Orangenschalenaroma.

Das Anwesen von Monsieur Clément indessen gehört heute einer Stiftung. Die erinnert mit der stillgelegten Fabrik, einem überraschend modernen Kunstmuseum und einem Skulpturenpfad im großen Garten auch an die Schattenseite der Plantagenwirtschaft: die Sklaverei. Schließlich hatten die weißen Kolonisten keine Lust, selbst auf den Feldern zu schuften. So bestellten sie Zwangsarbeiter aus Afrika wie Möbelstücke. Auf sechs hohen Säulen hat Christian Lapie zur Erinnerung daran im Garten des Anwesens lose Köpfe drapiert. In Erinnerung an diejenigen, die den weißen Sklavenhaltern zum Opfer fielen. Daneben gedeiht ein prächtiges junges Exemplar des Kapok-Baumes. Aufmüpfige Sklaven seien mit einem nassen Lederriemen an seinen Stamm gebunden worden, erzählt François. Wenn sich das Leder beim Trocknen zusammenzog, drückten sich die dicken kegelförmigen Stacheln ins Fleisch der Gepeinigten. Und wer dennoch seinen eigenen Kopf haben wollte, der habe ihn oftmals wenig später ganz verloren — baumelnd an einem der starken Äste des Zombie-Baumes nebenan.

Lange hatte man sich auf Martinique um das unerfreuliche Kapitel gedrückt, lieber in der quirligen Inselhauptstadt Fort de France das mächtige Kastell präsentiert, das einst gegen die Engländer schützen sollte, und die Patisserien und Cafés sowie die Statue der Joséphine de Tascher de la Pagerie. Die Tochter eines Plantagenbesitzers war zwar einst selbst mit Hilfe zweier Sklaven geflohen. Nachdem sie in Frankreich indessen als Ehefrau Napoleons Karriere gemacht hatte, trat sie prompt für eine Wiedereinführung der Sklaverei ein.

Dann wurde der Joséphinen-Statue 1991 von einem Unbekannten der Kopf abgeschlagen und Gilbert Larose hatte einige Jahre später eine Idee. Ursprünglich wollte der Kreole auf einem Feldstück im Hinterland der Touristen-Hochburg Trois Ilets nur eine Hütte bauen, um am Waldrand süße, kleine Bananen zu verkaufen, die heute das Hauptexportgut der Insel sind.

Doch es kamen immer mehr Besucher, schwadronierten von alten Zeiten. Irgendwann sah Gilbert sie vor sich, wie seine Urgroßeltern noch auf den Zuckerfeldern schuften mussten, bis ihre Rücken krumm und ihre Füße zerschunden waren. 2004 eröffnete Larose seine „Savanne des Esclaves“ für die Öffentlichkeit. Auf einem brachliegenden Stück Land hat er mit ein paar Freunden ein Freilichtmuseum geschaffen, das die Lebenswelt der Sklaven in Erinnerung ruft.

Das Ensemble von Hütten wird von hölzernen Figuren bewohnt. Sie stehen für die 60 000 Schwarzafrikaner, die im 18. und 19. Jahrhundert praktisch rechtlos auf der Insel ausgebeutet wurden. Tafeln erklären, wie die Menschen mit Macheten zur schweißtreibenden Ernte in die Felder zogen, wie sie sich mit 1,4 Quadratmetern Stoff im Jahr bekleiden mussten und wie sie auf alten Jutesäcken keinen Schlaf fanden. Erst nachdem der aufgeklärte Insulaner Viktor Schoelcher 1848 die Aufhebung der Sklaverei durchgesetzt hatte, ging es allmählich aufwärts.

Larose ist auch in einer solchen Hütte mit einem Dach aus Zuckerrohrblättern aufgewachsen — mit seinen sieben Schwestern und zwei Brüdern. Ein zweites Dorf zeigt, wie die Leute kleine Gärten bestellten, Hühner züchteten und Heilkräuter sammelten. Neuerdings hat der umtriebige Chef des Privatmuseums auch noch ein Dorf der Cariben nachgebaut, die vor Ankunft der Weißen auf der Insel lebten. Musiker von der Nachbarinsel Dominica sollen es einmal in der Woche mit Leben füllen.

Vom Erfolg seines Projektes ist der 55-Jährige, der einst mit 15 Jahren ohne Abschluss von der Schule ging, ohne von der Sklavenzeit irgendetwas gehört zu haben, selbst überrascht. „Anfangs haben mir viele abgeraten“, erzählt er. Von der Sklaverei hätten die Einheimischen nichts wissen wollen. Larose zeichnete deshalb einen Comic, um die Inselkinder aufzuklären.

Heute präsentiert François Jock die Sklavensteppe Journalisten als Vorzeigeprojekt. Wenn an guten Tagen 400 Gäste teils in Busgruppen von den Kreuzfahrtschiffen auf der Buckelpiste zu seinem Parkplatz rollen, muss Gilbert Larose nunmehr den Neid mancher Nachbarn fürchten. Die werfen ausgerechnet dem Aufklärer vor, er würde aus dem schauerlichen Erbe Kapital schlagen.

Der Fairness halber sei erwähnt, dass es auf Martinique, das sich heute friedliebend als Blumeninsel vermarktet, auch in der Vergangenheit nicht nur Sklavenhalter und Sklaven gab. Familie Dubuc etwa ging von ihrem Château an der Nordseite der Insel einem anderen Gewerbe nach. Mit Leuchtfeuern lockten die Dubucs fremde Schiffe an ihre Küste, wo diese an den Klippen zerschellten. Auch, wenn zur Ruine verfallen, lässt das einstige Château hoch über der See noch erahnen, wie einträglich das war. Der Autor reiste mit Unterstützung von Atout France und Comité Martiniquais du Tourisme.

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