Marokko: Im Labyrinth der Sinne

Der Besuch im antiken Zentrum der Königsstadt Fez ist eine Zeitreise – Reiz-Überflutung inklusive.

Düsseldorf. Anhalten ist keine Alternative. Mohamad Loukid schlängelt sich mit seinem roten Taxi hupend, fluchend, wild gestikulierend und doch irgendwie lenkend durch den Vorstadtverkehr.

Manchmal sind es drei Zentimeter bis zum nächsten Auto. Auf einer Straße, die in Deutschland dreispurig wäre, läuft der Verkehr hier vierspurig - in beide Richtungen. Rote Ampeln sind nur Verhaltensvorschläge. Hauptsache, es geht vorwärts, irgendwie.

Mohamad greift sich an die Mütze und flucht in seinen Schnauzbart. Dann lehnt er sich in seinem zerbeulten Fiat 500 zurück und fragt: "Na, hattet ihr einen schönen Tag in Fez?" Den beiden Fahrgästen weicht die Todesangst der Fahrt aus dem Gesicht, und mit einem breiten Grinsen schweifen ihre Gedanken zurück zu dem Ort, von dem sie gerade kommen.

Vorbei an den Mauern des Königspalasts und der königlichen Gärten führt der Weg durch das blaue Tor, das Bab Boujloud, in eine andere Welt - die Altstadt von Fez. Sie ist berühmt für die Qarawiyin-Universität und deren imposante Moschee. Ihr mittelalterliches Gerberviertel ist Weltkulturerbe.

Der Platz hinter dem Tor und die Hauptgasse sind noch touristisch geprägt. Hier gibt es Restaurants und Cafés mit Gästefängern und Läden mit "original" Markenklamotten. Doch wenn man einmal abbiegt, sind die letzten europäisch anmutenden Eindrücke verschwunden.

Die Touristen werden von einem Labyrinth aus Gassen verschluckt. Diese seit Jahrhunderten organisch gewachsene Stadt wirkt wie ein Lebewesen. Faszinierend und bedrohlich. Denn die Rechnung, nach der nächsten Ecke wieder auf die Hauptgasse zu kommen, geht nie auf. Rechte Winkel gibt es hier ebenso wenig wie einen exakten Stadtplan. Waren werden mit Eseln oder Handkarren transportiert - das geht auch nur auf den breitesten Straßen. Da kann es auch einmal zu einem Muli-Stau kommen.

Je weiter man in das Gewirr aus namenlosen Sträßchen eindringt, desto intensiver werden Gerüche und Geräusche. Auf Hören und Riechen muss man sich verlassen, denn die Sichtweite beträgt höchstens zehn Meter. Nach Minuten durch schulterbreite Gassen steht man plötzlich auf einem kleinen Platz an dessen Rändern sich Textil- und Lederwaren-Läden niedergelassen haben.

Zwei Gassen weiter ist man plötzlich in einer Gewürz-Straße, wo Safran, Pfeffer und Co. Nase und Augen mit Düften und Farben bestechen. Wieder zwei Ecken weiter hört man in einem ganzen Viertel das Hämmern der Zimmerleute die kitschige Hochzeits-Thröne herstellen - oder Särge.

Die nächste Gasse ist ein Markt und man steht Auge in Auge mit einem Kamel, dessen Kopf vor einer Metzgerei baumelt. Die Vielfalt an Farben, Formen und Gerüchen ist so überwältigend wie Flora und Fauna in einem Dschungel. Nur eins haben alle Läden gemeinsam: An der Wand hängt ein Bild von Marokkos König Mohammed VI..

Das Taxi von Mohamad Loukid hält an einer großen Kreuzung. Links schießt die Mauer des Königspalasts sechs Meter in die Höhe. "Jaja, die Marokkaner lieben ihren König, nur die korrupten Typen, die ihn umgeben, die nicht", sagt Mohamad. Seine Entrüstung über den Griff seiner Fahrgäste nach dem Sicherheitsgurt hat sich gelegt, und er beäugt neugierig die Einkaufstaschen.

"Was habt ihr da?", fragt er. "Eine Djellaba", ist die Antwort. Den Umhang, ähnlich einer Mönchskutte, gibt es für jedes Wetter und jede Gelegenheit. Loukid erkundigt sich nach dem Preis für das traditionelle Berber-Gewandt. "180 Dirham." Er schaut, fühlt und sagt schließlich: "Das ist gute Ware, man hat euch nicht über’s Ohr gehauen." Wer nicht handeln möchte, zahlt automatisch eine "Touristengebühr".

Die Frage eines Gürtelverkäufers, ob man denn ein Berber sei, ist dagegen das größte Kompliment, das ein Kaufmann in Fez machen kann. Alle sind hier geschäftstüchtig: Ob es der zahnlose Alte ist, der einen faustgroßen Batzen Haschisch aus seiner Djellaba hervorzaubert oder der Zehnjährige in einem gefälschten Trainingsanzug des FC Chelsea, der für eine Hand voll Dirham die Touristen auf das Vordach der Familien-Gerberei führt und erklärt: "Wir gerben die Tierhäute mit Kuh-Urin und Taubenkot."

Hätte er es nicht gesagt, man hätte es gerochen. So ist der Blick über die Gerbtöpfe auf die Männer mit den verfärbten Händen und Füßen in doppelter Hinsicht atemberaubend. Nase und Gaumen werden aber entschädigt, sobald einer der Läden in Sicht kommt, der Feigen, Datteln, Rosinen oder klebrige Süßigkeiten feilbietet. In die Geschäfte kommen die Besitzer nur mit einem Eisenring an einer Kette und einem Felgaufschwung über die Auslage. Eine Tür gibt es nicht.

Wer sich der Orientierungslosigkeit ergibt, erlebt diese Stadt mit allen Sinnen. Er wird, überflutet mit Eindrücken an irgendeiner Stelle von dem Gassen-Lebewesen wieder ausgespuckt. Dann noch einen süßen Minztee im Café und ab geht es mit dem Taxi zurück zum Hotel. Der Kilometerzähler des Wagens zeigt 749 177 Kilometer an. Die Fahrertür wird nur durch einen in die Fensterdichtung gesteckten Schraubenzieher zugehalten. Weiter geht’s im mörderischen marokkanischen Verkehr.

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