Mafia im Eissalon: Traumwandeln durch Palermo

Palermo (dpa/tmn) - Für ein Wochenende abtauchen in eine andere Welt - dafür ist Palermo ideal. Wer sich mit allen Sinnen gefangen nehmen lässt von dieser Stadt tief im Süden, der weiß bald nicht mehr, ob seine Erlebnisse Traum oder Wirklichkeit sind.

Die meisten Privatreisen gleichen einer Flucht. Raus aus der Tretmaschine des Alltags, etwas anderes sehen, vielleicht sogar ein anderes Leben führen, ein anderer Mensch werden. Deshalb habe ich ein verlängertes Wochenende in Palermo gebucht. Warum Palermo? Der Wahl lag nicht mehr zugrunde als eine unbestimmte Sehnsucht nach dem Italien der Kindheit: fremd und verlockend.

Spaziergang durch die Altstadt. Säulen, Palmen, Mofas, Trümmer. Der legendäre Verfall Palermos. Viele Altbauten sind im Zustand der Auflösung, an mancher Ecke türmt sich Müll. Doch nach allem, was man hört, ist das hier der Normalzustand und nie anders gewesen. „Woher kommt die Unreinlichkeit eurer Stadt?“, fragte Goethe 1787. Die Antwort, die er bekam, hat sich bis heute nicht geändert: „Es ist bei uns nun einmal, wie es ist.“

Derweil könnte man den Eindruck gewinnen, dass es hinter den Kulissen überaus reinlich zugeht. Aus den Fenstern hängt - wie vom Fremdenverkehrsamt bestellt - die Wäsche: Hemden, Kleider, Röcke, Hosen, Unterhosen, alles trocknet unter der Sonne Italiens und den Blicken der Fremden.

Merkwürdig, dass Palermo am Meer liegt, man es aber nirgends sieht. Die Stadt steht mit dem Rücken zur See. Es gibt keinen Strandboulevard, keine Hafenpromenade. Auch weht kein Wind von der See her. Schaut man indessen von der Via Roma - einer der großen Verkehrsadern und Flaniermeilen - die Seitenstraßen hinunter, so kann es sein, dass am anderen Ende unvermittelt ein Kreuzfahrtschiff aufragt. Der Ozeanriese liegt so dicht an der letzten Häuserzeile, dass es scheint, er sei mitten auf der Straße vor Anker gegangen.

Überall werden Köstlichkeiten angeboten, selbst am Sonntag, wenn die Märkte und die meisten Geschäfte geschlossen sind. In Kühlvitrinen und anderen gastronomischen Schreinen drehen sich Torten, teilweise grell gefärbt. Die Gäste wirken bedächtig, zerzupfen Croissants und süße Brötchen wie in Trance.

Der heiße Atem des Schirokko heizt der Stadt ein. Alle Fensterläden sind geschlossen, damit die Hitze draußen bleibt. Die Kleidung klebt am Körper. Aus der Glut eines Platzes flüchte ich in die kühle Dämmerung der Kathedrale. So tief im Süden erscheint die angestammte Religion des eigenen Kulturkreises exotisch. Ein Mann im Anzug kniet mit gefalteten Händen vor einem Altar mit einer Büste des blutüberströmten Heilands. Touristinnen, die das Gotteshaus mit zu kurzen Röcken betreten, müssen sich mit weißen Papierkitteln bedecken. Die Hand jedes Einheimischen geht beim Betreten der Glaubensburg reflexartig ins Weihwasserbecken. Vorne, beim Priester, wird der Rosenkranz aufgesagt. Das Ritual hat etwas Beschwörendes.

In einer Gelateria feiert eine Familie den Geburtstag oder vielleicht auch die Erstkommunion ihres Sohnes. Alle sind im Sonntagsstaat, selbst Oma läuft auf Stöckelschuhen. „Soll ich Ihnen etwas verraten?“, raunt mir der Ober zu. „Das ist die Mafia. Alle, die hierher kommen, gehören zur Mafia.“ Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass er dies allen Touristen so erzählt, um ihre Reaktionen zu testen. Doch dann durchfährt es mich plötzlich: Der Vater des Kommunion-Jungen, schwarze Sonnenbrille, Macho-Haltung, zückt eine schwarze Pistole. Erst als er sie dem Sohn aushändigt, wird mir klar, dass es sich um eine Spielzeugwaffe handelt.

Es hat wohl mit dem Ort zu tun, dass man hier Dinge für möglich hält, die man unter normalen Bedingungen sofort ausschließen würde. Palermo benebelt die Sinne. In der flirrenden Luft zerfließen die Konturen. Dazu die schweren Weine und der ständige Fäulnisgeruch - all das ist einem klaren Verstand nicht eben zuträglich. Ich begebe mich zu einer Siesta aufs Zimmer, döse ein.

21.00 Uhr abends. Jetzt erst füllen sich die Tische vor den Restaurants. Man isst ausschließlich draußen. In Palermo kann man die italienische Kellnerhierarchie noch in höchster Vollendung erleben. Der Oberkellner schreibt die Bestellung auf, reißt den Zettel vom Block und reicht ihn nach rechts. Dort nimmt ihn ein jüngerer Kellner in Empfang und trägt ihn in die Küche. Das ist seine einzige Aufgabe. Für das Servieren der Speisen sind wieder zwei andere Kellner zuständig. Der Oberkellner selbst tut keinen Handgriff, er ist nur für die Konversation zuständig.

Als ich bezahle, frage ich mich, wie viel Prozent davon wohl für die Mafia sind. Etwa 80 Prozent aller Restaurant und Geschäfte zahlen hier den „Pizzo“, das Schutzgeld, so heißt es. Mittlerweile gibt es aber Hunderte, die sich der Erpressung verweigern und die Aktion „Adiopizzo“ (Tschüss Schutzgeld) unterstützen. Ein spezieller Stadtplan zeigt an, wo man sie findet. Ich nehme mir vor, ihn am nächsten Tag zu nutzen.

Der letzte Tag bringt Regen, aber keine Abkühlung. Dünne Wolkenbänder legen sich wie Saturn-Ringe um die Berge, die nun schwarz und bedrohlich wirken. Ich nehme den Bus zum Flughafen, meine Flucht geht zu Ende. Ich werde wenig zu berichten haben. Es ist wie oft nach dem Aufwachen: Von den wenigsten Träumen kann man erzählen.

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