Kanada: Mutproben im Eis

Eisklettern - das Wintersportvergnügen der besonderen Art.

Calgary. Es klingt wie eines der letzten Abenteuer: Gefrorene Wasserfälle hochzuklettern, in den Schluchten tief im Westen Kanadas. Doch mit dem Pickel in der Hand, den Steigeisen an den Füßen und dem richtigen Bergführer über sich ist Eisklettern gar nicht so schwer - solange das Eis hält.

Es ist einer dieser Wintermorgen, an denen Mike der Höhenrausch packt. Das Thermometer zeigt 14 Grad minus in den Kanadischen Rocky Mountains, über den schneebedeckten Gipfeln geht gerade die Sonne auf. Mike hängt in einer senkrechten Eiswand am Seil und hackt die Pickel in das Eis. Es ist spröde, immer wieder brechen Splitter aus der Wand. "Das Eis zähmen wir heute", ruft er.

Mike Trehearne ist Bergführer. Der 27-Jährige hat sich ein rotes Tuch um den dunkelblonden Wuschelkopf gewickelt, darüber trägt er einen orangefarbenen Sturzhelm. An seinen Bartstoppeln hängen kleine Eiszapfen. Sein Kletterrevier sind die gefrorenen Wasserfälle im Wintersportort Canmore in Westkanada. "Junk-yards" heißen die Eiswände dort, Müllhalden. Klingt ermutigend.

Doch Mike weiß, was er tut: Seit 15 Jahren klettert er Eiswände rauf und runter. Nun bringt er Kletterschülern bei, wie man Eisfälle erklimmt. Auch Anfänger nimmt er mit in die Schluchten der Provinzen Alberta und British Columbia. "Eisklettern ist einfacher, als es aussieht", verspricht er. Das soll beruhigen. Und bei Mike sieht es auch einfach aus. Schon steht er auf einem Felsen über der "Junk Wall", einem etwa 25 Meter hohen, gefrorenen Wasserfall am Fuß des 2407 Meter hohen Ha Ling Mountain. Beim Aufstieg hat Mike das Eis überprüft, Eisschrauben in die Wand gedreht und Seile befestigt. Es ist alles bereitet.

Noch liegt der Wasserfall im Schatten. Das sind gute Bedingungen, denn bei zu viel Sonne lösen sich leicht Eisbrocken vom Gestein. Heute aber ist der Eispanzer stellenweise über einen halben Meter dick und sitzt bombenfest, als hätte man ihn mit Pattex am Stein festgeklebt. "Komm’, jetzt bist Du dran", ruft Mike und winkt.

Mit Pickeln in der Hand und spitzen Zacken an den Stiefeln geht es langsam die Wand nach oben. Schritt für Schritt, Meter für Meter, wie in Zeitlupe. Die Muskeln sind angespannt, der Kopf dröhnt, die Arme schmerzen. Jetzt nur keinen Fehler machen. Das Eis knirscht, das Seil gleitet lautlos durch die Karabinerhaken. Man fühlt sich wie in Trance. Dann auf einmal gibt es einen Ruck. Mike zieht einen am Seil den letzten halben Meter nach oben.

Geschafft. Mike gratuliert und klatscht. "Nicht schlecht fürs erste Mal", lobt er. Die Knie zittern, die Arme fühlen sich an wie gelähmt. Beim Blick in den Abgrund kann einem schwindlig werden: Tief unter dem Wasserfall sind Baumkronen und die Dächer von Canmore zu erkennen. Auf der anderen Seite des Bow-River-Tals leuchtet der schneebedeckte Gipfel des Grotto Mountains im Morgenlicht.

In Kanada ist Eisklettern Trendsport: "Früher haben sich nur Waghalsige auf die Eisfelder gewagt", erzählt Touranbieter Len Youden. "Heute kann jeder das Eisklettern lernen." Für 430kanadische Dollar (rund 324 Euro) am Tag können Gäste im Einzelunterricht mit Mike die Eiswände erklimmen, 325 Dollar kostet der halbe Tag, Ausrüstung inklusive. In Kleingruppen bis zu sechs Personen kostet es zwischen 120 und 155 Dollar pro Kopf.

In den kanadischen Rocky Mountains liegen Dutzende Kletterareale. Beliebt sind vor allem der Johnston Caynon etwa 50 Kilometer weiter westlich im Banff Nationalpark oder der King Creek im Kananaskis Country im Vorland der Berge. Die Reviere bieten unterschiedlich schwierige Klettermöglichkeiten, für Anfänger wie Profis.

Allein Mike Trehearne nimmt jeden Winter 300 Schüler mit in die Eiswände. Mal nur für einen halben Tag, mal eine ganze Woche zum Intensiv-Kurs. Er hat sich damit einen Lebenstraum erfüllt. "Nach der Schule habe ich Klettern zu meinem Beruf gemacht", sagt er. Mike ist schlank und drahtig - und ein Adrenalin-Junkie.

Noch ist die Mutprobe nicht vorbei: Für den Abstieg hat sich Mike eine 35 Meter hohe Eiswand mit dem hübschen Namen "Scottish Gully" ausgesucht. Er befestigt noch schnell ein paar Haken im Eis, fädelt das Seil ein und bindet den Gurt fest. Mike wird oben warten, bis alle anderen abgestiegen sind, das Seil immer fest in der Hand.

"Lass’ Dich nach hinten fallen", ruft er. Mit dem Rücken zum Abgrund geht es nach unten. Der Körper ist angespannt, im 45-Grad-Winkel hängt man in der Wand. Die Spikes bohren sich tief in das Eis.

Da löst sich ein kleiner Eisbrocken. Die Füße rutschen weg, der Körper rast gut zwei Meter nach unten, die Beine baumeln über dem Tal. Doch das Seil hält. Ganz sicher. Nach ein paar Momenten finden die Steigeisen wieder Halt. "Alles in Ordnung bei Dir?", fragt Mike von oben. Die Muskeln sind völlig verkrampft, der Magen fühlt sich flau an. Aber es gibt kein Zurück. Zehn Minuten später ist das Tal erreicht, endlich wieder fester Boden unter den Füßen.

Aufatmen. Auf dem Weg zurück in die Stadt hält Mike auf einen Kaffee. Die Straßencafés von Canmore sind voll. An den Hauswänden lehnen Snowboards, Schlittschuhe, Schneeschuhe, Ski. Outdoor-Freaks wie Mike tauschen hier nachmittags ihre neuesten Erlebnisse aus. "Du kletterst fast wie ein Profi", behauptet er zum Abschied. "Wer beim ersten Mal Eisklettern nur einmal fällt, der hat Potenzial."

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