„Hello Lenin“: Der Revolutionär als Touristenattraktion in Moskau

Moskau (dpa) - Auf dem Roten Platz in Moskau sind Doppelgänger von historischen Figuren wie Lenin und Stalin ein Renner. Hinter der Touristenattraktion verbergen sich menschliche Schicksale und die Zerrissenheit eines Landes auf der Suche nach Identität.

Lenin braucht eine Pause. Seit mehr als fünf Stunden sitzt der Führer der Weltrevolution auf dem Roten Platz und bedient die Kundschaft. 96 Jahre nach der Oktoberrevolution ist das kommunistische Idol zu einer Attraktion für Touristen in Moskau geworden. Die internationalen Brigaden des Pauschaltourismus sind bewaffnet mit Smartphones und auf der Jagd nach Bildern für Twitter, Instagram und Co. Für 200 Rubel, knapp fünf Euro, gibt es einen Schnappschuss mit dem Revolutionsführer. „Facebook-Likes“ mit Lenin - direkt vom Roten Platz.

Irgendwann ist das selbst dem Führer der Arbeiterklasse zu viel. Mühsam erhebt sich Lenin von seinem Klappstuhl, schlurft in eine Straßenecke und nimmt mehrere Schlucke aus einer in eine Zeitung eingeschlagenen Wodka-Flasche. Aber es ist nicht das Parteiblatt „Prawda“ der Kommunisten, das es in Russland bis heute zu kaufen gibt - sondern eine Illustrierte, Marke Revolverblatt.

Wladimir Iljitsch Lenin heißt eigentlich Alexander Igorewitsch Sologub. Er ist nicht das einzige Double, das sich auf dem Roten Platz als Wiedergänger einer historischen Größe anbietet. Stalin mit der unvermeidbaren Pfeife steht ein paar Meter weiter und grüßt Kinder. Daneben wankt ein Abbild von Zar Nikolaus II. gefährlich auf einen zweiten, etwas dickeren, Lenin zu.

„Das sind diese Typen, wegen denen es vor ein paar Jahren Probleme gab“, erzählt Alexander. Damals hatte der betrunkene Zar zusammen mit dem breiten Lenin Ärger mit der Polizei - angeblich wegen Pöbelei.

Es sind schwer durchschaubare Geflechte im kleinen Kosmos der Doppelgänger. Die historischen Wahrheiten verschwimmen auf diesem Jahrmarkt der historischen Groteske. So gibt es die Todfeinde Zar und den dicken Lenin nur im Doppelpack. Alexander, der „richtige Lenin“, wie er meint, posiert dafür mit seinem Freund Sascha - ein Abbild des jungen russischen Dichterfürsten Puschkin. „Bei uns ergibt das Paar wenigstens Sinn“, erklärt Alexander. Puschkin und Lenin hätten immerhin beide gegen den Zaren geschrieben und gekämpft.

Der Rote Platz bietet ein skurriles Panoptikum fast aller popkultureller Phänomene der Moderne. Nicht nur Lenin, Stalin und der Zar buhlen um die Fotoapparate der Touristen. Auch das Säbelzahn-Eichhörnchen aus dem Film „Ice Age“ und Disney-Figuren bieten sich feil. „Manchmal ist auch Putin da“, sagt Lenin-Double Alexander über einen Kollegen. Nur Karl Marx habe er länger nicht gesehen. „Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein“, sagt er.

Es sind menschliche Schicksale, die hinter den Kostümen stecken. Alexander erzählt, er habe sich als Söldner im Kosovo-Krieg verdingt. Später habe er auf den Großbaustellen in Athen gearbeitet, als die Gebäude für die Olympischen Spiele 2004 entstanden. Dort hätten ihm seine Kollegen auch zum ersten Mal gesagt, er sehe einem Geschichts-Typen so ähnlich. „Hitler? Nein, der Andere! Lenin!“

Manchmal wird Alexander beschimpft. Von Menschen, die unter der Sowjetmacht gelitten haben - aber auch von alten Kadern, die in ihm einen unrühmlichen Clown sehen. Ein paar Meter weiter ruht der echte Lenin. Einbalsamiert seit seinem Tod 1924 und im kürzlich sanierten Mausoleum zur Schau gestellt, sein Gehirn eingelagert in Alkohol in der staatlichen Universität. Seit Jahren fordern auch orthodoxe Priester Lenins endgültige Beerdigung. Aber selbst die einflussreiche Kirche konnte diesen Schrein des Kommunismus bisher nicht stürmen.

Alexander und Sascha haben Kundschaft. Maria aus Lettland will ihre sechsjährige Tochter zusammen mit den Geistesgrößen aufnehmen. „Das ist doch viel besser als diese Freak-Show im Mausoleum“, meint sie. Dort dürfe man ja nicht knipsen, und dieser Lenin hier sei fast noch besser als das Original. Dann muss Marias Tochter zwischen Lenin und Puschkin posieren. Sehnsüchtig schaut sie zu den Disney-Figuren, die ein paar Meter weiter mit den Augen rollen.

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