Die Insel der Freiheitskämpferin

Besucher der abgelegenen Insel Con Dao vor Vietnams Küste genießen den Luxus — und entdecken ihre dunkle Vergangenheit.

Besucht Truong Dat Ngyuen zur Geisterstunde eine der wichtigsten Frauen in seinem Leben, kommt er nicht mit leeren Händen. Er hat Blumen mitgebracht. Rosen natürlich, das machen fast alle, die um Mitternacht auf dem Hang Duong-Friedhof zwischen den Gräbern hin und her huschen. Warum auch nicht? „Sie hätte sie gemocht“, sagt der junge Vietnamese und legt den kleinen Strauß auf die schwarze Marmorplatte, an der der feine Regen abperlt. Er verbeugt sich, faltet die Hände zum Gebet, murmelt ein paar Worte, schweigt, und macht dann den nächsten Besuchern Platz. Eine Stunde später ist der Sarkophag mit Blumen übersät, auch Spiegel, Kämme oder Shampoo liegen auf dem Stein. Dinge, die eine 19-Jährige nach Meinung der Menschen hier auf Con Dao sehr gern gehabt hätte.

Die Insel der Freiheitskämpferin
Foto: Sven Schneider

Dabei sind es nicht nur die Einwohner der kleinen Tropeninsel vor der Küste Südvietnams, die jede Nacht an das Grab von Vu Thi Sau pilgern. Aus dem ganzen Land kommen die Menschen. Für viele Vietnamesen ist ein Besuch ihrer letzten Ruhestätte Pflicht. Wer sich Anreise und Übernachtung auf Con Dao nicht leisten kann, wird von Staats wegen finanziell unterstützt. „Dann hilft die Regierung“, sagt Ngyuen. Schließlich erinnert das blank polierte Grab der Insulanerin an den Mut und die Opferbereitschaft der Vietnamesen. Als Revolutionärin und Terroristin wurde sie 1952 von den einstigen französischen Kolonialherren hingerichtet. „Sie ist eine Nationalheldin“, sagt Ngyuen, „und wenn wir unsere Gebete an sie richten, werden wir Erfolg haben.“ Wobei? „Eigentlich bei so ziemlich allem“, sagt er, zieht sein kariertes Hemd glatt und macht sich auf den Rückweg zwischen den Gräbern. „Erfolg bei der Arbeit, in der Liebe und die Gesundheit einer kranken Tante — alles ist möglich.“

Bei Ngyuen sind es mehr Touristen, die er sich für seine Heimatinsel wünscht. Der 27-Jährige, der sich tagsüber Antonio nennt („Das ist einfacher für die ausländischen Gäste“), arbeitet im einzigen Luxushotel des gesamten Archipels. Als Mädchen für alles, als persönlicher Butler. Nur, dass diese Bezeichnung schon lange nicht mehr en vogue ist. „Guest Experience Manager“, kurz GEM, nennt das sein Arbeitgeber, die internationale Hotelkette Six Senses.

Dazu ist es eine Doppeldeutigkeit: Im Englischen heißt das „Juwel“. Und als ein solches sollen ihn die Urlauber des Resorts auch ansehen. 24 Stunden am Tag ist er für sie im Einsatz. Erklärt ihnen die Annehmlichkeiten der Beach-Villen, fährt sie mit einem elektrischen Golf-Cart zum Essen, macht ihre Termine im Spa oder in der Tauchstation. Ein Frühstück am eigenen Pool? Kein Problem, ein Anruf auf Antonios Diensthandy genügt. Freie Zeit hat er nur mittwochs, wenn er kurz vor Mitternacht das Grab von Vu Thi Sau aufsucht.

Dort ist er dann wieder er selbst, Truong Dat Ngyuen. Wenn auch nur für eine Nacht, dann ruft die Arbeit wieder. Ein enormes Pensum, das ihn aber nicht sonderlich stört. Sein Lohn, auf den er nicht genauer eingehen mag, sei für lokale Verhältnisse üppig. Und dann natürlich das Trinkgeld. „Das entschädigt sehr“, sagt er. „Die meisten unserer Gäste sind sehr spendabel und vermögend.“

Den dicksten Lohn hätte der junge Mann vermutlich vor ein paar Jahren abgreifen können, als Angelina Jolie und Brad Pitt im Resort verweilten. „Aber ich war noch nicht da,“ bedauert er, „sehr schade.“ Die Geschichten über den prominenten Besuch kennt dennoch jeder Angestellte und jeder Bewohner der Insel. Im Jahr 2011 mietete das einstige Hollywood-Glamour-Paar für sich und sein Gefolge gleich mehrere luxuriöse Beach-Villen. Es ging den Schauspielern nicht nur um Urlaub. Pax, der vietnamesische Adoptivsohn, sollte ein wenig mehr über die Geschichte seines Landes lernen — und da kam das verträumte und abgelegene Inselchen etwa 80 Kilometer vor der Küste Vietnams gerade recht.

Im Jahr 1861 errichteten die französischen Kolonialherren dort ein Gefängnis für politische Gefangene. Jeder, der dem Willen der jeweiligen Machthaber im Weg war, wurde ins Phu-Hai-Gefängnis der Insel gebracht und oft schwer misshandelt. Nach den Franzosen nutzten Vietnamesen die Anlage, auch die amerikanische CIA machte gegen Ende des Zweiten Indochina-Krieges mit. Wie viele es genau waren, die eingekerkert wurden, weiß niemand. Schätzungen ergeben mehrere Zehntausend.

In all’ dieser Zeit besaß das mit traumhaften Stränden und üppig bewaldeten Hängen versehene, mitten in einem Meeresnationalpark gelegene Con Dao den Spitznamen „Insel des Teufels“ — und ein Besuch im mittlerweile als Gedenkstätte hergerichteten Gefängnis gehörte auch zum Programm des „Brangelina“-Clans. Selbstverständlich organisiert von den GEM des Resorts. Wie sich die Pitts damals fühlten, als sie durch die Folterkeller und Zellen wanderten, weiß Fremdenführerin Thi Thu Ngyuen nicht, die mehrfach am Tag ausländischen und vietnamesischen Touristen das Gefängnis zeigt. „Aber besonders für Vietnamesen ist ein Besuch schwer zu verkraften“, sagt die zierliche 24-Jährige. „Viele halten es nur ein paar Augenblicke aus.“

Wie zum Beweis zieht sie die schwere Stahltür von Zelle Nummer sechs auf. Muffige Luft dringt nach außen und ein schwacher Lichtschein aus einem knapp unter der Decke angebrachten Fenster scheint auf eine gespenstische Szenerie. Drei Dutzend abgemagerte Gestalten sitzen dort mit Ketten an den Knöcheln gefesselt auf dem schimmeligen Boden. Die Augen flehend zum Fenster gerichtet, die Hoffnung auf Flucht im Blick. Die Gewissheit des Todes strömt durch den kleinen Raum. Zwar nur eine lebensechte Nachbildung mit Gipsfiguren, aber die Wirkung wird nicht verfehlt.

Auch die vielen anderen der fast 400 Zellen der Anlage sind harte Kost. Oft sieht der Betrachter drakonische Prügelszenen, dann wieder Zellen mit unverhohlen sarkastischen Bezeichnungen. So wie die „Solarien“, jene engen Einzelzellen, denen ein Dach fehlt und in denen den Insassen die heiße Tropensonne erbarmungslos aufs Haupt brannte.

„Auch Vu Thi Sau war hier gefangen“, sagt Thi Thu Ngyuen. Die Heldin aller Vietnamesen, die mit ihrem Tod ihren Landsleuten im Kampf gegen fremde Besatzer und jeglichen Unbill des Lebens ein Signal zum Durchhalten gab. Eine tragische und gleichzeitig romantische Figur, deren Grab auch die junge Fremdenführerin einmal in der Woche gegen Mitternacht besucht. Wie jedes Mal hat sie dann auch einen Strauß Blumen dabei, den sie der Widerstandskämpferin aufs Grab legt. Der Autor reiste mit Unterstützung von Tischler reisen und Vietnam Airlines.

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