Amsterdam: Ein Meer aus bunten Blüten

Farbenfroh, einzigartig und der Stolz einer ganzen Nation: Die Tulpensaison in Holland ist eröffnet und lockt tausende Besucher.

Amsterdam. Es ist ein kalter Tag in Amsterdam, dick eingemummelt trotzt Thea van de Tuuk den Temperaturen rund um den Gefrierpunkt. Nicht nur ihr Mantel wärmt sie. Auch die Aussicht auf etwas Besonderes bringt den Stoffwechsel der 72-Jährigen aus Amstelveen auf Touren. Die Liebe treibt sie raus auf die Straße — aber bei der Wahl ihrer Liebschaften ist sie wählerisch. „Leidenschaft, Widerstandsfähigkeit, Fantasie.“ Die Niederländerin weiß genau, was sie will. „Mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden.“

Amsterdam: Ein Meer aus bunten Blüten
Foto: Sven Schneider

Mit strengem Blick läuft sie auf dem Dam in Amsterdam die Reihen der Kandidaten ab und lässt fast alle links liegen. „Rambo“ sei nichts für die rüstige Rentnerin, auch „Don Quichotte“ komme ihr nicht ins Haus. Der „Charmeur“ aber, ein roter Bursche mit weißem Revers, der hat es ihr angetan — und flugs greift sie sich ein gutes Dutzend der beliebten Tulpensorte, bevor es jemand anderes tut. Die Eile ist berechtigt: Hinter ihr strömen tausende weitere Besucher auf den Platz vor dem Königspalast in der niederländischen Hauptstadt, um sich ihre Lieblings-Tulpen aus einem der rund 2000 Bottiche zu pflücken.

Joost Wesselmann, Tulpenzüchter

Die feierliche Eröffnung der Tulpensaison ist alljährlich ein großes Spektakel. Rund 200 000 Blumen stehen in einem Muster auf dem wichtigsten Platz des Landes zur kostenlosen Mitnahme bereit. Und es dauert nicht ganz drei Stunden, da haben Einheimische und Touristen den Dam ratzekahl geplündert. Die Begeisterung für Hollands Nationalblume kennt keine Grenzen — wie auch das ein oder andere Outfit erkennen lässt.

Thea beispielsweise trägt ihre Zuneigung zu der einst aus dem Orient nach Westeuropa gekommenen Pflanze deutlich zur Schau: Ihren und den Kopf ihrer Freundin schmückt ein Hut im Stil eines übergroßen Tulpenbouquets und mit je zwei vollen Tüten ihrer Lieblingssorte ziehen die beiden Damen von dannen.

Ein paar Meter weiter neben einer kleinen Holzbude reibt sich Joost Wesselmann die Kälte aus den Händen und freut sich sichtlich über die Volksfeststimmung auf der Meile. Der Blumenzüchter aus Roelofarendsveen, einem kleinen Ort zwischen Leiden und Amsterdam, hat vor 21 Jahren seine Liebe zur Tulpe zum Geschäft gemacht. Wesselmanns Vater habe sich einst der Zucht von mehreren Blumensorten verschrieben, erzählt er. Doch unter all den Hyazinthen, Rosen und Lilien war es besonders die Tulpe mit ihrem langen Stängel, dem sanften Duft und der Farbenvielfalt, die den Sohn am meisten begeisterte. „Sie ist einfach die Königin der Blumen“, sagt er, „so zart und robust zugleich. Einfach wundervoll.“

Da die Pflanze nicht nur bei seinen Landsleuten, sondern überall in der Welt begehrt ist, witterte er ein gutes Geschäft — und kaum hatte er den elterlichen Betrieb übernommen, setzte er voll und ganz auf Tulpen. Rund 15 Millionen Pflanzen wachsen jede Woche bei angenehmen 16 Grad Lufttemperatur in seinen vier Gewächshäusern heran. Eine immense Zahl — und doch nur ein Bruchteil der gesamten niederländischen Tulpenproduktion. Fans und Floristen aus der ganzen Welt bestellten im vergangenen Jahr rund zwei Milliarden Exemplare bei Wesselmann und seinen mehr als 700 Züchter-Kollegen.

Die sogenannten Tulpenbroeiers gehören in den Niederlanden zu einem der angesehensten Berufszweige. „Seit dem Goldenen Zeitalter“, weiß Wesselmann, „da ging ohne uns gar nichts.“ Gemeint ist das 17. Jahrhundert, in dem holländische Kaufleute ungeheure Reichtümer anhäuften, den Asienhandel bestimmten und auch die Kunst eine wahre Blütezeit erlebte. Etwa 700 Maler, darunter Meister wie Rembrandt und Vermeer, fertigten in der Hochphase an die 70 000 Gemälde pro Jahr — eine beispiellose und bislang unerreichte Produktion. Nicht selten waren Tulpen auf den Kunstwerken zu sehen, und die Preise für Sorten wie die längst verschwundene Semper Augustus stiegen ins Unermessliche. Für nur drei Zwiebeln der Pflanze wurden bis zu 30 000 Gulden gezahlt; zu einer Zeit, als das Durchschnittseinkommen gerade einmal bei 150 Gulden pro Jahr lag.

Gern denkt Wesselmann an diese Zeit und bedauert, dass er die ersten mehrfarbigen Züchtungen, die damals geschaffen wurden, nicht erleben durfte. „Das muss wunderbar ausgesehen haben“, vermutet er.

In nicht ganz zwei Monaten aber darf er wieder in der Vergangenheit schwelgen, wenn der Keukenhof bei Lisse seine Pforten öffnet. Der größte Blumenpark Hollands ist nur in der kurzen Zeit der Tulpenblüte zu besichtigen — und die Tulpenbroeiers machen das 32 Hektar große Areal zu einer atemberaubenden Blütenschau.

Mehr als vier Millionen Zwiebeln wurden in den vergangenen Wochen vergraben und werden dann pünktlich zur Blüte ein unvergleichliches Farbenmeer ergeben. Wie in den vergangenen Jahren üblich, gibt es auch 2016 ein Motto: Das Goldene Zeitalter. In großflächigen Bildern erwarten die Besucher Szenen aus der Zeit des Handels, der Kunst und der Architektur. Die Prachtschau ist die beste Werbung, die sich Züchter wie Wesselmann nur wünschen können — und sie zaubert ihm und seinen Kunden ein Lächeln aufs Gesicht.

Der Autor reiste mit Unterstützung des Niederländischen Fremdenverkehrsamtes.

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