Im Fahrstuhl in die Favela: Rio de Janeiro mal ganz anders

Rio de Janeiro (dpa/tmn) - Die Favelas von Rio de Janeiro haben einen miesen Ruf. Sie gelten als Orte des Verbrechens, in die sich, abgesehen von den Bewohnern, niemand reintraut. Doch manches hat sich geändert in Brasiliens zweitgrößter Stadt.

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Was für ein Ausblick: Aus 65 Metern Höhe schweift das Auge durch die Straßen von Ipanema zum weltberühmten Strand, von dort übers Meer zu ein paar kleinen Inseln, und dann nach rechts, wo im Hintergrund die Felskegel der „Dois Irmãos“, der „Zwei Brüder“, als Wahrzeichen in den Himmel über Rio ragen.

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„Mirante da Paz“, Aussichtspunkt des Friedens, heißt der luftige Ausguck. Er ist die Endstation eines Fahrstuhls, der in Rio de Janeiro seit vier Jahren zwei Welten miteinander verbindet: Unten, auf Meereshöhe, Ipanema, eines der reichsten Stadtviertel in ganz Brasilien, und oben auf dem Hügel der Cantagalo, eine Favela, ein typisches brasilianisches Armenviertel also. Dicht an dicht drängen sich die Häuser aus unverputzten Ziegelsteinen am Hang.

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Favela, das klingt nach Räuberhöhle und Drogenkrieg. Sie gelten als Gegenden großer Gefahr, die Angehörige der brasilianischen Mittel- und Oberschicht ihr Leben lang nicht betreten. Doch anlässlich der Fußball-WM (12. Juni bis 13. Juli) und der Olympischen Spiele 2016 hat sich die Sicherheitspolitik verändert: Dank verstärkter Polizeipräsenz sind die Favelas zumindest im Süden Rios nicht mehr so heiße Pflaster wie einst. In etlichen gibt es schon geführte Touren.

Dass man sich im Cantagalo nicht verläuft, dafür sorgt Isabell Erdmann. Die Deutsche, die aus einem Dorf in Schwaben stammt, lebt seit vielen Jahren in Rio und arbeitet als Fremdenführerin. Vom Ausgang des Fahrstuhls führt der Weg mit ihr durch enge Gassen und über viele Treppen hinein ins Häusermeer. Jungs kicken auf einer Terrasse, Männer schleppen Bierpaletten den Berg hinauf. Zwischen Häusern und Laternenpfählen verläuft in einigen Metern Höhe ein abenteuerliches Kabelgewirr. Die vielen Satellitenschüsseln zeigen, dass kaum ein Favelabewohner mehr ohne Fernseher lebt.

Isabell Erdmann kennt sich aus, sie lebt selbst in der Favela. Alle Welt kennt und grüßt sie. „Leben in der Favela ist bestimmt kein Luxus“, sagt sie. Wasser, Strom, Abwasser, Transport, Telefon-Festnetz und Internet gebe es zwar - sie funktionierten aber nicht immer. Man müsse lernen, manchmal ohne auszukommen. „Außerdem muss man sich an Treppen gewöhnen, immer, viele, und alles wird diese Treppen hinauf- und hinuntergetragen.“

Anscheinend aber nicht der Müll, der die Wege und Hänge verunstaltet. Damit ihn die Müllabfuhr abholen könnte, müsste man ihn auf die andere Seite des Hügels schleppen. Denn im Cantagalo selbst gibt es keine Straßen.

Rund 20 000 Menschen leben im Cantagalo und den angrenzenden Favelas Pavão und Pavãozinho. Es sind die kleinen Leute, die unten in Ipanema und Copacabana als Hausmädchen, Kellner, Verkäuferinnen oder Wächter arbeiten. Isabell Erdmann wehrt sich dagegen, Rios Favelas als „Elendsviertel“ zu bezeichnen. Es seien Arbeiterviertel. Niemand hungere. „Wer wirkliche Armut sehen will, sollte in den Nordosten Brasiliens gehen“, sagt sie. Cantagalo heißt so viel wie Hahnenschrei. Der Name entstand, weil seine Bewohner stets im Morgengrauen runter zur Arbeit gingen.

Der Favela-Tourismus ist umstritten. Der Schriftsteller Paulo Lins, Autor des auch verfilmten Romans „Cidade de Deus“ („Die Stadt Gottes“), ist vehement dagegen, findet, dass die Bewohner dabei wie Tiere ausgestellt würden. Weniger streng äußert sich der Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio, Dawid Bartelt: Der Tourismus helfe zwar wenig, die Probleme der Favelas zu lösen, könne aber beitragen, das Bild der Favela als Ort des Verbrechens zu korrigieren. „Er kann zeigen: Da findet ein ganz normales Leben statt“, sagt Bartelt.

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