Essstörungen: Dem Schlankheitswahn verfallen

Immer mehr junge Frauen leiden an Magersucht oder Bulimie. Ohne Hilfe kann dies tödlich verlaufen.

Düsseldorf. Jeder Blick in den Spiegel war für Emilie (Name von der Redaktion geändert) eine Abrechnung mit ihrer Figur. Die Fettpölsterchen am Bauch störten, die Oberschenkel schwabbelten, die Hüften waren zu weiblich. Ihr Körper ließ sich nicht in die angesagte Jeans pressen, mit der gerade alle Mädchen aus der Klasse angaben. Aber gerade ihnen wollte die 14-Jährige gefallen. Auf der Suche nach Anerkennung und Liebe rutschte sie in die Magersucht ab. Ein Martyrium. "Ich dachte, wenn ich die oder die Hosengröße tragen kann, werden sie mich akzeptieren", erinnert sich die heute 16-Jährige zwei Jahre nach der akuten Erkrankung. Emilie repräsentiert die typische Gruppe, derer, die an einer Essstörung erkranken: Sie ist weiblich, mitten in der Pubertät und hat ein geringes Selbstbewusstsein. "Junge Mädchen müssen in der Pubertät viel mehr durchstehen als Jungen", sagt Professor Johannes Hebebrand, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Essen-Duisburg. Der relative Fettanteil im Verhältnis zum Körper nimmt bei Mädchen in der Pubertät stärker zu als bei Jungen. Zudem stellen sich Mädchen unter höheren Leistungsdruck, reagieren empfindlicher auf Einflüsse wie Werbung.

Die Krankheit wird von einer Fülle von Ursachen ausgelöst

Prinzipiell spricht Hebebrand von "einem Konglomerat an Ursachen": Genetische Dispositionen, die familiäre Situation, aber auch persönliche oder schulische Einflüsse können die Krankheit bedingen. Die Diagnose wird an einer Vielzahl von Kriterien getroffen: Die Erkrankte hat ein niedriges Körpergewicht, ihr Body-Mass-Index liegt unter 17,5 (Bestimmung unter www.mybmi.de), sie zieht den sozialen Rückzug vor, isst nicht mehr mit der Familie, wirkt depressiv, verleumdet die Bedrohung und hat Angst zuzunehmen. Hebebrands medizinischer Rat: "Eltern sollten mit ihrem Kind kompetente Hilfe bei Kinderpsychiatern oder Psychologen aufsuchen."

Viele Betroffene sind einsichtig und schaffen den Absprung

Auch Emilie schloss immer häufiger die Tür ihres Kinderzimmers ab und sperrte ihre Familie aus ihrem Leben aus. Sie distanzierte sich. Zwanghaft studierte Emilie die Kalorientabellen. Gemüse, Obst und Vollkornprodukte setzte sie auf ihren Speiseplan. "Meine Gedanken kreisten nur ums Essen, auch wenn ich nichts gegessen habe. Dann dachte ich eben an die Lebensmittel, die ich nicht essen werde." Selbst Pflegestifte für die Lippen benutzte sie nicht mehr. "Ich hatte Angst, von dem Fett zuzunehmen." Rasant hungerte sie sich innerhalb von sechs Monaten auf 32 Kilo herunter. Viele Betroffene seien, so auch Emilie, einsichtig und stimmen der Behandlung zu. "Für sie gibt es keinen Ausweg mehr. Aber nicht alle schaffen den Absprung: Jede zehnte Frau stirbt nach einigen Jahren an den Folgen der Essstörung, etwa an Herz- oder Nierenversagen. "Der Tod ist wie ein langsames Verhungern", sagt Hebebrand. Emilie ließ sich jedoch selbst in die Klinik einweisen. Die permanente Kontrolle, die Ausgangs- und Besuchssperre, das Einhalten von Essensplänen machten dem Mädchen zu schaffen. "Erst in der Klinik wusste ich, ich habe ein Problem, das mir entglitten war", sagt die heute 16-Jährige. In der auf sie individuell abgestimmten Therapie gelang es ihr, ihr Gewicht zu normalisieren und die Ursachen klar zu definieren. Für die Zukunft besteht Hoffnung: Ihr Ziel ist es, ein normales Verhältnis zum Essen aufzubauen. "Ich taste mich gerade an Weißbrot heran." Unterschiedliche Krankheitsbilder Anorexie Magersucht ist eine krankhafte Essstörung, die durch radikales Hungern und starken Gewichtsverlust gekennzeichnet ist. Experten gehen davon aus, dass 0,5 bis 0,75 Prozent aller jungen Frauen darunter leiden. Auch Jungen und junge Männer leiden zunehmend darunter. Die Ursachen sind vielfältig. Sie basieren auf genetischen Faktoren, psychischen Störungen und generellen gesellschaftlichen Einflüssen. Laut allgemeinen Kriterien gilt jemand ab einem Body-Mass-Index von 17,5 oder weniger als magersüchtig. Folgen sind unter anderem Hormonstörungen, Durchblutungsstörungen, Muskelschwäche und Mangelerscheinungen, die unter anderem auch an kaputtem Haar erkennbar werden. In zehn bis 15 Prozent der Fälle verläuft die Krankheit tödlich. Bulimie Die Ess-Brech-Sucht ist durch wiederholte Ess-Attacken gekennzeichnet, auf die Erbrechen selbst herbeigeführt wird. Um eine Gewichtszunahme zu verhindern, werden Abführmittel und Appetitzügler eingesetzt, sowie Sport getrieben. Das Erbrechen kann auch auf die Einnahme einer normalen Mahlzeit erfolgen. Laut Studien leiden 2,5 Prozent der Frauen lebenslänglich an Bulimie. Zeitdauer und Frequenz der einzelnen Attacken sind variabel. An Bulimie Erkrankte können unter-, normal- oder übergewichtig sein. Die Ursachen der Bulimie sind mit denen der Magersucht vergleichbar. Die Bulimie hat deutliche körperliche Konsequenzen: Das wiederholte Erbrechen kann zu Herz-Rhythmus-Störungen und Entzündungen der Speiseröhre führen. Die erhöhte Magensäure im Mund hat Zahnschäden zur Folge. Binge-Eating Binge-Eater konsumieren innerhalb von kurzer Zeit ungewöhnlich große Mengen an Nahrung. Dabei können die Betroffenen nicht kontrollieren, wie viel sie essen. Im Gegensatz zur Bulimie wird hier das Gegessene nicht wieder erbrochen, so dass längerfristig Übergewicht eine Folge der Erkrankung ist. Das Binge-Eating gilt als die am häufigsten auftretende Essstörung.

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