Nach dem PIP-Skandal - Brustimplantate boomen

Dieburg (dpa) - Ein Skandal ohne Folgen? Ein halbes Jahr nach dem Wirbel um minderwertige Silikon-Implantate ist die Nachfrage nach Brustvergrößerungen ungebrochen. Der einzige deutsche Hersteller kommt mit der Produktion für den weltweiten Markt kaum nach.

Um die Belastbarkeit von Brustimplantaten zu testen, geht es beim Prüfen zu wie im schwedischen Möbelhaus. Stundenlanges Auf- und Abschieben simuliert jahrelanges Joggen, ein herabfallendes Gewicht den Aufprall bei einem Autounfall. Bald werden die Testmaschinen im südhessischen Dieburg noch länger laufen. Der einzige deutsche Hersteller von Silikonimplantaten kann die Nachfrage kaum bedienen, „wir führen gerade eine dritte Schicht ein“, berichten Mitarbeiter der Firma Polytech Health & Aesthetics GmbH.

Dabei gab es zuletzt nur Negativ-Schlagzeilen für diese ohnehin nicht allzu gut beleumundete Branche. Im vergangenen Winter wurde bekannt, dass die französische Firma Poly Implant Prothèse (PIP) Implantate mit nicht zugelassenem Industrie-Silikon verkauft hatte. Ein britischer Prüfbericht kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass die Billigimplantate deutlich häufiger reißen. Wenn Silikon austritt, besteht die Gefahr, dass Gewebe sich entzündet oder Schadstoffe sich in den Lymphknoten sammeln. Ob auch ein erhöhtes Krebsrisiko besteht, ist bislang nicht bewiesen, aber durchaus möglich.

Wer erwartet hatte, dass die Zahl der Brustvergrößerungen seither zurückgegangen ist, irrt. Die Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen hat ihre Mitglieder befragt und fand heraus: Die Nachfrage ist keineswegs gesunken. Der PIP-Skandal habe „erstaunlich“ wenig Folgen, sagt Sprecherin Kerstin van Ark. Einziger Unterschied zur Vor-PIP-Zeit: Es werde vermehrt nach Eigenfett-Implantaten gefragt. Aber die spielen als Alternative keine Rolle. In Deutschland werden jährlich rund 40 000 Brustimplantate eingesetzt.

Auch Polytech-Inhaber Wilfried Hüser hat nach eigenen Angaben wenig bemerkt: Weder gab es einen Einbruch - etwa, weil nach den Hiobsbotschaften weniger Frauen eine Brustkorrektur vornehmen ließen - noch einen Nachfrageschub - etwa, weil viel Frauen ihre Billigkissen hätten austauschen lassen.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geht davon aus, dass über 5000 Frauen in Deutschland Implantate von PIP oder anderen unseriösen Firmen erhalten haben. Bis Mitte 2012 wurden laut BfArM 1000 Implantate wieder entfernt. Bei mehr als einem Viertel der gemeldeten Fälle war ein Kissen gerissen, bei jedem fünften Silikon ausgetreten.

Der Qualitätsmanager der Firma Polytech, Oliver Bögershausen, betont ausdrücklich: „Sicherheit steht bei uns an erster Stelle.“ Jedes Stück ist Handarbeit, die Produktion dauert mindestens vier Tage. Am Anfang stehen die „Positivformen“ der gewünschten Brust - am Ende die glibberigen Kissen mit festerer Hülle und weicherer Füllung.

Rund 1700 verschiedene Brustimplantate bietet Polytech an: vier Grundformen von rund bis tropfenförmig, jeweils in vier verschiedenen Größen, dazu verschiedene Oberflächen von glatt über aufgeraut bis schaumbeschichtet. Nicht nur künstliche Brüste gehören zum Sortiment, auch Waden, Hoden oder Pobacken sowie „Expander“ zum Dehnen von Gewebe stellt die 25 Jahre alte Firma her. Sogar eine künstliche Ohrmuschel für ein Unfallopfer wurde als Einzelstück schon gefertigt.

In den Reinräumen arbeiten die Mitarbeiter in Kitteln, Mundschutz und Haube. Wo es besonders stark nach Kunststoff und Lösungsmitteln riecht, tragen sie Atemmasken - zum Beispiel dort, wo die Hüllen gemacht werden. Die Mitarbeiter gießen von Hand fünf Mal eine zähflüssige weiße Masse aus Metallkannen über Plastikpilze, die sich wie in der Hähnchenbraterei an Metallstangen drehen. Nebenan werden die Hüllen von Hand aus kaffeekannenartigen Kanistern mit einer eigens angerührten Silikonmischung befüllt. Von Hand ziehen Kolleginnen mit Spritzen jede einzelne Luftblase aus dem Implantat.

Am Ende wird das Silikon vulkanisiert. „Dabei werden die einzelnen Moleküle des Rohsilikons miteinander vernetzt“, erklärt Bögershausen. Zig-Mal werde jedes Stück angefasst, die Dicke der Hülle gemessen, das Gewicht der Füllung nachgewogen, die Größe des Kissens kontrolliert. Am Ende bekommt jedes Kissen eine Seriennummer verpasst und wird sterilisiert.

300 bis 700 Euro kostet ein Brustimplantat bei einem Hersteller wie Polytech und ist damit erheblich teuerer als bei Firmen wie PIP. Nach Einschätzung von Prof. Magnus Noah, plastischer Chirurg aus Kassel, gibt es in Deutschland „nur drei seriöse Unternehmen“: Die beiden US-Anbieter Allergan und Mentor sowie Polytech. Sie böten gleichbleibende Qualität, großes Know-how und hohe Sicherheitsstandards.

Trotzdem könne niemand eine lebenslange Komplikationsfreiheit garantieren, betont Chirurg Noah: „Wie sich das Implantat im Körper verhält, hängt von vielen unterschiedlichen und individuellen Kriterien ab, die sich weder vom behandelnden Arzt, noch vom Hersteller beeinflussen lassen“. Beim Wiederaufbau nach einer Amputation etwa sei das bestrahlte Gewebe sehr sensibel, hier sei eine Kapselfibrose wahrscheinlicher als bei gesundem Brustgewebe.

Nachdem die kriminellen Machenschaften der französischen Firma bekanntgeworden waren, begann eine Diskussion über das Medizinproduktegesetz - unter das Brustimplantate ebenso fallen wie Hüftprothesen oder Herzschrittmacher. „Die jüngsten Skandale haben deutlich gezeigt, dass die gesetzlichen Vorgaben bei Medizinprodukten nicht ausreichen, um Patienten wirksam zu schützen“, findet der AOK-Bundesverband. Für Medizinprodukte müssten die gleichen Qualitätssicherungsmaßnahmen gelten wie bei Arzneimitteln.

Die EU-Kommission hat angekündigt, 2012 eine Reform der Richtlinie über Medizinprodukte auf den Weg bringen. Die Experten in Brüssel denken unter anderem über ein zentrales Meldewesen für Zwischenfälle nach. In Deutschland ist bisher nur eine neue Verwaltungsvorschrift geplant: Prüfunternehmen wie der TÜV sollen ab 2013 zu unangekündigten Kontrollen bei den Herstellern vorbeischauen dürfen.

In Dieburg wächst derweil mit der Auftragslage die Mitarbeiterzahl ebenso wie der Umsatz. 60 000 Implantate haben 2011 das Werk im südhessischen Dieburg verlassen, 2012 sollen es 80 000 sein. 100 Mitarbeiter sind es aktuell, Ende des Jahres werden es 120 sein. Der Umsatz soll von 10,5 auf 12,5 Millionen Euro steigen. Das ist allerdings eher weniger den deutschen Frauen zu verdanken. Rund 80 Prozent der Implantate geht ins Ausland. Der größte Markt ist Südamerika, berichtet Inhaber Hüser, besonders stark aber wächst Asien: „Die Asiatinnen wollen nicht nur europäische Augen.“

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