Richter ohne Robe: Schöffen als „heilsame Bremse“

Berlin (dpa) - Seiner großen Verantwortung ist sich Schöffe Johannes Groschupf bei jedem Prozess bewusst. Er entscheidet mit, ob jemand ins Gefängnis muss oder nicht. Dabei hat er einen anderen Blick als der Richter - ein Glück für die deutsche Rechtsprechung, sagt ein Experte.

Manchmal liegt Johannes Groschupf nachts wach im Bett und grübelt über ein Gerichtsurteil. Der 48-Jährige ist seit rund zweieinhalb Jahren Schöffe, derzeit am Berliner Landgericht. Die große Verantwortung seiner Zunft macht er sich immer wieder klar. „Man schickt dann jemanden ins Gefängnis - oder eben nicht.“ Das greife unglaublich tief in das Leben eines Menschen ein.

Die Verantwortung der Laienrichter ist tatsächlich enorm. „Die deutschen Schöffen haben die gleiche Stellung wie die Richter“, sagt Strafrechtler Albin Eser. „Innerhalb der Gerichtsverhandlung haben sie dieselbe Entscheidungsmacht.“ Das sei aber auch gut so, findet der ehemalige Richter. „Durch die Schöffen nimmt gewissermaßen auch das Volk teil an der Rechtsprechung - Schöffen bedeuten also eine stärkere Verankerung der Justiz im Volk.“

Rund zwölf Urteile habe er schon mitentschieden, erzählt Groschupf. Ein Fall sei ihm besonders zu Herzen gegangen: Ein Trinker, der sich im Supermarkt mit einer Verkäuferin und einem Polizisten angelegt hatte. Sollte der Mann neun Monate ins Gefängnis oder reichte eine Bewährungsstrafe? Der Angeklagte sei „eine verlorene Existenz“ gewesen, seit Jahren arbeitslos. Vor Gericht sei der Mann in Tränen ausgebrochen.

„Dem hilft möglicherweise etwas ganz anderes“, dachte Groschupf damals. Die Entscheidung fiel an einem Freitagnachmittag und sie fiel schnell. Vielleicht zu schnell, sagt er heute. Der Trinker musste ins Gefängnis. „Ich lag nachts wach im Bett und habe mir vorgestellt, was es heißt, für neun Monate ins Gefängnis zu gehen - das ist schon eine ganz lange Zeit.“

Nicht jedes Verfahren nehme ihn innerlich dermaßen mit. Aber wenn sich Prozesse über längere Zeit hinzögen, befinde er sich schon in einer Art Spannungszustand. Es helfe ihm dann, sich mit seiner Freundin zu beraten. Mit der Zeit habe er aber auch ein Ohr dafür entwickelt, ob ein Angeklagter die Wahrheit sage oder sich hinter Behauptungen verstecke.

Johannes Groschupfs Vater war Richter. Vielleicht kommt daher sein Interesse für die Justiz. Hauptberuflich hat der 47-Jährige mit Gerichten aber nichts zu tun. Der zweifache Vater ist freier Journalist und Romanautor („Zu weit draußen“). Seine Erfahrungen als Schöffe habe er allerdings noch nicht literarisch verarbeitet - obwohl die endlosen Treppen und Flure sowie die eichengetäfelten Sitzungssäle sicher eine gute Szenerie hergäben.

Für ein Amt als Schöffe habe er sich beworben, weil ihn Menschen und unterschiedliche Milieus interessierten, sagt der studierte Germanist, der in Berlin-Kreuzberg lebt. Ein paar Jahre wolle er auf jeden Fall noch Richter ohne Robe bleiben. Nach einem Prozess fährt er mit geschärfter Wahrnehmung durch Berlin. „Man hat dann eine Ahnung davon, wie es Menschen gehen kann, die wenig Geld haben oder Gesetze nicht für sich akzeptieren.“

Die Akten über einen Fall kenne er vor Verhandlungsbeginn nicht, berichtet Groschupf. „Ich kann nur nach dem urteilen, was dort gesagt wird.“ Der Richter führe die Schöffen im Beratungszimmer aber kurz in die Materie ein. In der Regel sei dieser dabei sehr höflich und geduldig. „Ich glaube, es gibt aber schon Richter, die Schöffen für sozialromantische Relikte aus der Vergangenheit halten“, sagt der 47-Jährige. Bei manchem Berufsrichter vermisse er „die emotionale Beteiligung“ an einem Fall.

Strafrechtler Eser sagt: „Nach Ansicht mancher Berufsrichter halten die Schöffen den Betrieb auf, weil sie immer so viele Fragen stellen.“ Es könne aber in einem Verfahren nicht nur um Schnelligkeit gehen. „Die Laienrichter können oft eine heilsame Bremse sein: Indem sie darauf hinwirken, die Dinge noch einmal von einer anderen Seite zu betrachten.“ Denn manchmal würden Richter über die Jahre auch „berufsblind“ und schenkten manchem keine Beachtung mehr. „Ein Schöffe kann dann durch scheinbar naive Fragen etwas aufwerfen, was sonst vielleicht zu wenig bedacht worden wäre“, erläutert Eser.

Das Gericht und die Richter strahlten schon viel Würde und Autorität aus, sagt Groschupf. Die Förmlichkeit, die Rituale, das Aufstehen aller im Gerichtssaal - „Mit 20 hätte ich das alles total übertrieben gefunden.“ Doch inzwischen hält er einen gewissen Respekt vor der Instanz für „durchaus angemessen“.

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