Wie die Demokratie ihren Kredit selbst verspielt

Inmitten von Populismus und Autokratie müsste das demokratische System seine Stärken beweisen. Das Gegenteil ist der Fall - ein Stimmungsbild aus der Region.

 Keine Werbeveranstaltung für gelingende Demokratie: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf dem Balkon des Bundeskanzleramts in Berlin.

Keine Werbeveranstaltung für gelingende Demokratie: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf dem Balkon des Bundeskanzleramts in Berlin.

Foto: Paul Zinken

Düsseldorf. Franz Meurer muss niemand erzählen, wie Demokratie erodieren kann. Der 67-Jährige arbeitet als katholischer Priester in den sozialen Brennpunkten von Köln-Vingst und -Höhenberg. Da kann die Wahlbeteiligung in einem Stimmbezirk auch schon mal bei nur neun Prozent liegen. Hier kann man studieren, was Meurer meint, wenn er sagt, dass das Versprechen einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft verschwunden sei. Wo er unterwegs ist, sind die prekären Lebensumstände überall mit den Händen zu fassen. Hier steht die Demokratie vor ihrem größten Dilemma: Wahlbedingt muss sie Versprechen formulieren. „Aber die Leute glauben das nicht mehr.“

Gerade neun Monate sind seit der Bundestagswahl vergangen. Was hängen bleibt: geplatzte Sondierungsgespräche, ewige Koalitionsverhandlungen und ein ins Absurde gesteigerter Machtkampf der Unionsparteien wegen einer Detailfrage. „Die Menschen wählen die AfD ja nicht wegen der Flüchtlingsprobleme“, sagt Meurer, „sondern weil sie selbst nicht mehr vorkommen.“

Nicht der Unionsstreit an sich sei das Problem, ist der Priester überzeugt, sondern die Art und Weise, wie er geführt werde. „Das wollen die Menschen nicht mehr.“ Und Meurer fragt sich, „ob sich die Demokratie stabilisieren kann, wenn die Politiker im Streit übereinander herfallen. Vor allem darf man nicht immer weitermachen.“ Und aus soziologischer Distanz sieht er sorgenvoll die Reibungspunkte zwischen Demokratie, Kapitalismus und Nation. „Wir versuchen noch, alle drei hinzukriegen. Viele sagen aber, es funktionieren nur zwei von drei zusammen.“

Heike Schulte blickt der Zukunft ins Gesicht. Die Zukunft, das sind die Schüler des Düsseldorfer Lessing-Gymnasiums. Und angesichts der Zukunft hat die Politiklehrerin ein Problem: „Wir müssen Politik neutral und seriös vermitteln. Und beides ist zunehmend unmöglich.“ Die vergangenen Monate in Berlin könne man kaum erklären, ohne zynisch oder despektierlich zu werden. „Das Taktieren von Horst Seehofer ist neutral nicht darzustellen.“ Zumal den Schülern erklärt werden müsse, warum die Politiker so handeln, wie sie es tun. „Aber das wissen wir manchmal selbst nicht mehr.“

Immer wieder versuchen sie und ihre Kollegen daher, sich auf die alte Kernfrage zurückzuziehen: „Wer verfolgt welche Interessen?“ Das helfe beim Entschlüsseln. Welche Probleme sind systemimmanent? Und welche Fragen haben mit Demokratie nichts zu tun? Denn Demokratie, diesen Eindruck gewinnt die Pädagogin in ihrer Arbeit immer wieder, ist für die jungen Menschen kein Wert an sich. Dass sie eine Errungenschaft ist, dass Europa den Frieden gebracht hat, dazu fehlen den Schülern oft die inneren Anknüpfungspunkte. Sie blicken quasi neutral auf das politische System, in das hinein sie geboren wurden — und stellen es damit auch neu infrage.

Als die AfD aufkam, erzählt Heike Schulte, sei sie im Unterricht auch als eine Gefahr für die Demokratie thematisiert worden. Und dann muss man miterleben, wie es die Demokratie ganz alleine schafft, ihren Kredit zu verspielen. Schulte befürchtet perspektivisch negative Folgen bei den Schülern, von denen sich ohnehin nur wenige sehr und die meisten so gut wie gar nicht für Politik interessieren: „Demokratie wird ihnen zunehmend suspekt.“

Maryo Fietz ist an dem Punkt, wo ihm nur noch das Wort „erbärmlich“ einfällt. „Das gilt nicht nur für die Bundesregierung, sondern für ganz Deutschland.“ Kein Hunger, kein Antrieb, „alle dümpeln dahin. Es fehlt die Aufbruchstimmung.“ Vor vier Jahren, so der Geschäftsführer der Burscheider Fietz Gruppe, sei Deutschland die Führungsnation in Europa gewesen. „Jetzt ist es nur noch ein erbärmlicher Haufen, der satt auf dem Sofa sitzt, die Welt an sich vorbeiziehen lässt und sich auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruht.“

Für den Unternehmer, dessen Gruppe mit 250 Mitarbeitern technische Kunststoffprodukte herstellt und einen Jahresumsatz von 30 Millionen Euro erwirtschaftet, kann es aus dem Berliner Schauspiel der vergangenen Monate nur eine Konsequenz geben: „Seehofer und Merkel müssen beide weg.“ Und eine Kanzlerschaft solle künftig auf maximal zwei Legislaturperioden begrenzt werden.

Fietz glaubt: „Die Bevölkerung schreit nach einer führenden Hand.“ Und er ist sicher: „Was momentan passiert, ist nicht förderlich für die Demokratie.“ Stattdessen sei es Nährboden für Extreme. „Demokratie besteht aus einer Vielzahl von Kompromissen. Aber die Leute haben die Schnauze voll davon. Die Schritte sind ihnen zu klein.“

Es scheint eine gefährliche Mischung, die sich da zusammenbraut. Aber anstatt in diesem Umfeld seine Stärken unter Beweis zu stellen und positive Leidenschaft zu entfalten, verbeißt sich das demokratische System in seiner Außendarstellung in die Niederungen der zwischenmenschlichen Animositäten.

„Ich selber schüttle schon lange den Kopf über die Politik. Ich frage mich, wie das weitergehen soll“, sagt Marius Dittrich, der in seiner Freizeit versucht, als Fußball-Jugendtrainer in Meerbusch jungen Menschen auch so etwas wie eine Einstellung oder Haltung zu vermitteln. „Da wird was in Berlin beschlossen, und die Dritte im Bunde, die SPD, wird gar nicht dazu befragt.“ Persönliche Belange seien wichtiger geworden als die Belange des Landes. Die Konsequenz aus seiner Sicht: „Es wird politisch immer brauner — nicht nur hier, sondern auch in anderen Ländern.“

Ja, es gibt noch Menschen wie die Düsseldorfer Buchhändlerin Katharina de Fries, die diese Konsequenz aus dem „Machtspiel, das in Berlin stattfindet“, nicht hinnehmen will: „Es ist wichtig, dass wir uns demokratisch engagieren.“ Aber selbst Menschen wie dem iranischen Taxifahrer Yesai Baghumian, der den demokratischen Wettstreit der Meinungen aufgrund der Unterdrückungserfahrungen in seinem Heimatland besonders zu schätzen weiß, geht der Berliner Unionsstreit dann doch zu weit: „Meiner Meinung nach muss Seehofer weg, weil er die Partei spaltet und Probleme in Europa verursacht.“ Die Auswirkungen seien schon spürbar: „Die Grenzen sollen zugemacht werden und die Atmosphäre gegenüber Ausländern wird schlechter.“

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