Jahrestag Vor 75 Jahren: Krieg gegen die Sowjetunion - Das Verbrechen

Der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 vor 75 Jahren war der Auftakt zum Holocaust. Das „Unternehmen Barbarossa“ war ein Vernichtungskrieg, der auf direktem Weg zu den Gaskammern von Auschwitz führte.

Jahrestag: Vor 75 Jahren: Krieg gegen die Sowjetunion - Das Verbrechen
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Wuppertal/Berlin. Als Oberkirchenrat ist Klaus Eberl in der Evangelischen Kirche im Rheinland für die Bildungsabteilung zuständig. Am Mittwoch reist Eberl als Leiter einer Delegation rheinischer Christen nach Pskow, eine russische 200 000-Einwohner-Stadt rund 300 Kilometer südwestlich von Petersburg. Vor 25 Jahren unterstützte die Rheinische Kirche dort den Aufbau eines Heilpädagogischen Zentrums, einer Förderschule für behinderte Kinder und Jugendliche. Die Initiative des damaligen Präses Peter Beier (1934-1996) sollte dem Beschluss der Kirche zur „Versöhnung mit der Sowjetunion“ Taten folgen lassen. Eberl ist Ehrenbürger von Pskow, und die Reise zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion eine der beschämend wenigen deutschen Gesten des Gedenkens an den Auftakt eines Vernichtungskrieges ohne Beispiel.

Am 22. Juni 1941, einen Tag vor dem Jahrestag des Einmarschs Napoleons im Jahr 1812, überfiel die Wehrmacht um 3.30 Uhr morgens ohne Kriegserklärung mit rund drei Millionen Soldaten, 3600 Panzern, 3000 Flugzeugen und mehr als 12 000 Geschützen die Sowjetunion. Bereits im März 1941 hatte Hitler den Generälen in einer zweieinhalbstündigen Ansprache in der Reichskanzlei eingehämmert, dass er die Wehrmacht zur Ausrottung von Millionen von Menschen einzusetzen gedenke: „Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf“, notierte Generalstabschef Franz Halder Hitlers Ausführungen in sein Kriegstagebuch.

Am 13. Mai erging ein Erlass, der die deutschen Soldaten bei Übergriffen auf die Zivilbevölkerung vor Strafverfolgung schützte. Am 6. Juni ordnete das Oberkommando der Wehrmacht das „Erledigen“ politischer Kommissare der Roten Armee nach der Gefangennahme an. Die wirtschaftliche Ausbeutung, die Arbeits-Versklavung der Bevölkerung und den kalkulierten Hungertod von Millionen Zivilisten plante Reichsmarschall Göring in einer „Grüne Mappe“ genannten Richtlinien-Sammlung für die „Führung der Wirtschaft in den neubesetzten Ostgebieten“.

Die Wehrmacht sollte sich auf Kosten der Bevölkerung komplett aus den besetzten Gebieten versorgen, entsprechend knapp war ihr Nachschub kalkuliert. Der Norden der Sowjetunion, der landwirtschaftlich kaum auszubeuten war, wurde zum „Zuschussgebiet“ erklärt, dass von jeder Versorgung abgeschnitten werden sollte. „Daraus folgt zwangsläufig ein Absterben sowohl der Industrie wie eines großen Teils der Menschen in den bisherigen Zuschussgebieten“, hieß es in Görings „Grüner Mappe“. Welche Barbarei das bedeutete, erfuhr unter anderem die Bevölkerung von Pskow, das von der Wehrmacht am 9. Juli eingenommen und Teil des Belagerungsrings um Leiningrad wurde.

Vom ersten Tag des Überfalls an wurden die deutschen Soldaten zu Handlangern des Vernichtungskrieges gemacht. Der tägliche Bedarf (Nahrung, Munition, Treibstoff) einer Infanterie-Division mit rund 18 000 Soldaten lag bei 170 Tonnen, davon 35 bis 40 Tonnen Lebensmittel. Selbst Elite-Einheiten verfügten regelmäßig nicht über Transportkapazitäten für mehr als 60 Tonnen täglichen Nachschub.

Die Wehrmacht kalkulierte für die kämpfende Truppe mit Tagesrationen von 4000 Kalorien. Bäcker- und Metzgerei-Kompanien sollten pro Tag 12 000 Brote backen und 15 Rinder, 120 Schweine oder 240 Schafe verarbeiten. Die 150 Divisionen der Wehrmacht führten am 22. Juni 1941 lediglich Verpflegung für 20 Tage mit sich. Danach begann die „Versorgung“ aus den eroberten Gebieten. Wo die deutschen Divisionen durchzogen, entstanden „Kahlfraßzonen“ von mehreren hundert Kilometern.

Im Herbst 1941 befehligte Georg von Küchler die 18. Armee, die den Belagerungsring um Leningrad geschlossen hatte. Küchler war nicht nur bereit, drei Millionen Leningrader qualvoll verhungern zu lassen (im Fall des Falles sollte eine Kapitulation der Stadt vor ihrer vollständigen Vernichtung abgelehnt werden), sondern auch die Bevölkerung in seinem Besatzungsgebiet.

Ende Oktober wurde verfügt, verendete Pferde an Kriegsgefangenenlager abzugeben, weil sich ihrer sonst „die Zivilbevölkerung als Leckerbissen bemächtigt“. Allein in und um Pskow starben rund 300 000 Menschen während der Belagerungs-Besatzung bis zum Juli 1944, rund ein Drittel waren Kriegsgefangene. Die Bevölkerung erhielt kaum noch ein Drittel des täglichen Nahrungsbedarfs, die verbliebenen Ernten gingen zu zwei Dritteln an die Wehrmacht.

Mindestens 11 000 Bewohner der Stadt wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Dass die Rheinische Kirche dort 1991 aus Anlass des 50. Jahrestags des Überfalls mit ihrem Anliegen der Versöhnung offen empfangen wurde, macht angesichts der monströsen deutschen Verbrechen sprachlos. Denn General von Küchler, der im Januar 1942 zum Befehlshaber der Heeresgruppe Nord aufstieg, ließ auch in seiner Armee den berüchtigten „Reichenau-Befehl“ verbreiten.

Generalfeldmarschall Walter von Reichenau hatte als Befehlshaber der 6. Armee, die später im Kessel von Stalingrad elend verendete (erstmals seit den napoleonischen Kriegen verhungerten deutsche Soldaten während einer Schlacht), am 10. Oktober 1941 einen Befehl zum „Verhalten der Truppe im Ostraum“ herausgegeben, den weitere Armeeführer übernahmen. Dort hieß es: „Das wesentlichste Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System ist die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis.“

Woraus für Reichenau unter anderem folgte: „Fern von allen politischen Erwägungen der Zukunft hat der Soldat zweierlei zu erfüllen: 1) die völlige Vernichtung der bolschewistischen Irrlehre, des Sowjet-Staates und seiner Wehrmacht; 2) die erbarmungslose Ausrottung artfremder Heimtücke und Grausamkeit und damit die Sicherung des Lebens der deutschen Wehrmacht in Russland. Nur so werden wir unserer geschichtlichen Aufgabe gerecht, das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien.“

Reichenau selbst beteiligte sich mit Einheiten der 6. Armee aktiv an Massakern an der jüdischen Bevölkerung. Im August 1941 ordnete er in Bila Zerkwa, einer Stadt 80 Kilometer südlich von Kiew, die Ermordung von 90 jüdischen Kindern zwischen einem und sieben Jahren durch die Einsatzgruppe C der Sicherheitspolizei und des SD an. Zu dieser Einsatzgruppe gehörte auch das Sonderkommando 4a, das von Juni 1941 bis Januar 1942 von SS-Standartenführer Paul Blobel kommandiert wurde. Blobel war in Remscheid aufgewachsen und nach 1933 in der Solinger Stadtverwaltung beschäftigt. Er machte im SS-Sicherheitsdienst Karriere, 1938 trat der als „Koordinator“ der geraubten Wertgegenstände aus den Synagogen Solingen, Wuppertal und Remscheid in Erscheinung.

Unter seinem Befehl ermordete das Sonderkommando 4a innerhalb eines halben Jahres nach dem Überfall rund 60 000 Menschen. Generalfeldmarschall Reichenau stand in engem Kontakt zu Blobel. Er stellte ihm reguläre Soldaten zur Verfügung, um in der Kiewer Schlucht Babyn Jar am 29. und 30. September 1941 beim größten Massenmord während der deutschen Besatzung zu helfen. Bei seiner Vernehmung vor dem Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal sagte Blobel 1947 aus, in seiner Zeit als Kommandant „wurde ich verschiedentlich mit den Aufgaben der Hinrichtung von Kommunisten, Saboteuren, Juden und anderen unerwünschten Elementen beauftragt. Die genaue Zahl der hingerichteten Personen ist mir nicht mehr erinnerlich.“

Es waren in Babyn Jar allein an den beiden Septembertagen mehr als 33.000 Juden. Die 6. Armee half, die jüdischen Kinder, Frauen und Männer zusammenzutreiben und zu bewachen. Anschließend nahm sie Sprengungen vor, um die Leichen zu bedecken. Die Ermordeten wurden ausgeraubt, ihre Kleidung der NS-Volkswohlfahrt übergeben. Für den Kleider-Transport wurden 137 Lkw benötigt. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion begann der Holocaust. Nach den Massakern startete der systematische Mord in den Todeslagern zur Ausrottung aller europäischen Juden.

Am 3. September 1941, wenige Wochen nach dem Überfall, wurden in Auschwitz die ersten 850 Menschen mit Zyklon B vergast. 600 von ihnen waren sowjetische Kriegsgefangene. Es gibt in Deutschland kein einziges von Deutschen errichtetes Denkmal, das an die 27 Millionen sowjetischen Toten des deutschen Vernichtungskrieges erinnert.

Oberkirchenrat Klaus Eberl wird in Pskow in einem ökumenischen Gottesdienst predigen. In Berlin lädt die russische Botschaft zu einer Gedenkveranstaltung im Berliner Dom ein. Der ranghöchste deutsche Vertreter soll der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) sein. Etliche Staaten lehnen aufgrund der politischen Lage die Teilnahme ab. Der Bundestag hat sich auf den letzten Drücker zu einer einstündigen Debatte ab 16.30 Uhr „anlässlich des 75. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion“ statt eines Gedenkens durchgerungen. Ob die Kanzlerin teilnimmt, ist nicht bekannt. Der Bundespräsident weilt im Ausland.

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