Der Brexit und die Folgen Austrittsverhandlungen: Merkel nimmt das Tempo raus

Die Kanzlerin gibt den Briten Zeit, aber nicht unendlich - Hollande, Tusk und Renzi sind zu Krisengesprächen in Berlin.

Auch im eGspräch der Kanzlerin mit dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk ging es am Montag um den Brexit.

Auch im eGspräch der Kanzlerin mit dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk ging es am Montag um den Brexit.

Foto: Jesco Denzel

Berlin. Mit dem Austritt Großbritanniens wächst Deutschlands Bedeutung in der EU noch mehr. Am Montag war das deutlich zu sehen. Berlin wurde zum europäischen Krisenreaktions-Zentrum. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte dabei ein Hauptziel: Sie wollte Hektik und Emotion rausnehmen und im Vorfeld des EU-Gipfels eine gemeinsame Antwort der verbliebenen 27 Mitgliedsstaaten herstellen.

Fast im Stundentakt lösten sich die Telefonate und Beratungen im Kanzleramt ab. EU-Ratspräsident Donald Tusk kam am Nachmittag, abends stießen Frankreichs Präsident Francois Hollande und Italiens Premier Matteo Renzi dazu. Derweil war Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in Prag bei einem Treffen mit seinen Kollegen aus den vier Visegradstaaten Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Schon am Samstag hatte Steinmeier die Vertreter der fünf anderen EU-Gründungsnationen an der Spree begrüßt und anschließend mit den baltischen Hauptstädten telefoniert, während Merkel am Telefon mit dem sprach, der Europa das alles eingebrockt hatte: Briten-Premier David Cameron.

Die Kanzlerin will in jeder Hinsicht das Tempo herausnehmen. Sie habe ein gewisses Verständnis dafür, dass sich die britische Regierung derzeit noch mit der Analyse der Brexit-Entscheidung befasse, sagte sie. Es dürfe aber "keine dauerhafte Hängepartie" geben, unter der die Wirtschaft sowohl in Großbritannien als auch auf dem Kontinent leiden werde. Deshalb erwarte sie "zu einem bestimmten Zeitpunkt" den förmlichen Austrittsantrag der Regierung. Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) unterstützte den Kurs. Man solle jetzt keinen "unnötigen Druck" auf Großbritannien ausüben, meinte er.

SPD-Chef Sigmar Gabriel ist das zu langsam: "Damit der Brexit nicht auch Europa spaltet, müssen die Staats- und Regierungschef jetzt schnell für Klarheit sorgen", forderte er. Allerdings könnte die Mitteilung aus London, Camerons Nachfolger werde schon Anfang September und nicht erst wie ursprünglich geplant im Oktober gewählt, diesen Streit entspannen.

Nach Artikel 50 des EU-Vertrages ist es allein Sache der Londoner Regierung, wann sie ihren Austritt beantragt - und ob überhaupt. Davon freilich gehen alle in Berlin aus, auch wenn Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) am Wochenende mit der Bemerkung irritiert hatte, London solle die Möglichkeit haben, noch einmal die Folgen zu überdenken. Merkel klarstellend: Die Mehrheit beim Referendum sei "Fakt".

Tempo rausnehmen will Merkel auch inhaltlich. Dies betrifft zum einen das künftige Verhältnis zu Großbritannien. Das Land werde auch in Zukunft politisch wie ökonomisch ein wichtiger Partner sein, ist die Haltung im Kanzleramt. In diesem Geist müsse man daher mit London verhandeln. "Wir begegnen uns in der Nato wieder. Wir begegnen uns bei G7-Treffen wieder. Wir begegnen uns im UN-Sicherheitsrat", hatte Merkel am Samstag formuliert. Also bitte keine schmutzige Scheidung.

Das zweite betrifft die Konsequenzen für die EU. Hier war die SPD ebenfalls besonders schnell; Gabriel legte zusammen mit seinem Parteifreund Martin Schulz bereits am Freitag einen Zehn-Punkte-Plan vor. Tenor: Mehr Europa, also mehr verbindliche Absprachen bei der Wirtschafts- und Währungsunion und der inneren und äußeren Sicherheit. Und mehr Solidarität mit den ärmeren Mitgliedsländern. Heute treffen sich - mit Gabriel und Hollande - die sozialistischen Parteien Europas in Brüssel, um ihre Linie zu besprechen.

Einen ähnlichen Tenor hatte auch ein Text, den Außenminister Steinmeier mit seinem französischen Amtskollegen Jean-Marc Ayrault am Wochenende vorgestellt hatte - offenbar ohne die Kanzlerin vorher zu informieren. Merkel sagte, Hauptsache sei jetzt, "gegen die Fliehkräfte" in Europa zu arbeiten. Das schließt große Reformwürfe, die neuen Streit unter den Mitgliedsstaaten auslösen, in dieser Phase eher aus. Am heutigen Dienstag debattiert der Bundestag in einer Sondersitzung über das britische Debakel und die Folgen.

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