„Schlechtes Gewissen der DDR“ - Westbehörde dokumentierte Verbrechen

Mauertote, politische Häftlinge, Überwachung: Damit DDR-Verbrechen nicht ungesühnt blieben, wurden im Westen Zehntausende Fälle dokumentiert. Zuständig war ein kleines Amt in Salzgitter.

Salzgitter (dpa) - Der junge Mann springt in die Elbe und schwimmt. Sein Ziel: der Westen - ein Dorf im niedersächsischen Landkreis Lüneburg. Ein Grenzsoldat legt auf den 18-Jährigen an. Es fallen Schüsse. Als der DDR-Flüchtling auf der anderen Seite ans Ufer klettert, trifft ihn eine Kugel in den Oberkörper. Lungendurchschuss. Doch er kann sich zu einem Bauernhof schleppen. Und überlebt.

Für den ehemaligen Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Grasemann war der Fall im September 1988 klar. „Versuchter Totschlag.“ Doch es gibt keine Anklage in der DDR. Ziemlich genau 26 Jahre später sitzt Grasemann vor einer Tasse dampfendem Kaffee und erzählt, als sei das alles gestern passiert. Es ist nicht die einzige Geschichte dieser Art, die der 68-Jährige erzählen kann. Schließlich war es Ende der 80er Jahre sein Job, solche Fälle zu sammeln und zu dokumentieren.

Grasemann war von 1988 bis 1994 Sprecher und Vizechef der Zentralen Erfassungsstelle (Zest) im niedersächsischen Salzgitter. Die Behörde sollte Informationen über Staatsverbrechen an DDR-Bürgern sammeln. Initiiert wurde sie 1961 von Willy Brandt (SPD), damals Regierender Bürgermeister von West-Berlin, unter dem Eindruck der nicht lange zurückliegenden Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten.

Die Zest sei die Antwort der Bundesrepublik auf die ersten drei Mauertoten gewesen, erklärt die Historikerin Claudia Fröhlich von der Leibniz Universität Hannover, die an einem Buch zur Erfassungsstelle schreibt. Nach der Wiedervereinigung spielten die Zest-Akten bei vielen Ermittlungsverfahren eine Rolle - auch bei den sogenannten Mauerschützenprozessen.

Brandt hatte aber nicht nur eine spätere Strafverfolgung im Sinn. „Das Ziel lag anfangs vor allem in der Prävention“, sagt Fröhlich. Die DDR-Grenzer sollten wissen, dass ihre Taten nicht vergessen würden. Das sollte sie am Schießen hindern. Deshalb sei die relativ kleine Behörde auch offensiv über die Medien bekanntgemacht worden. Ob die Zest wirklich abschreckte und so Schlimmeres verhinderte, ist laut Fröhlich unklar. „Das ist schwer zu rekonstruieren.“

Die Handvoll Zest-Mitarbeiter in Salzgitter trugen laut Fröhlich allein im ersten Jahr rund 1000 Gewaltakte zusammen. Zunächst lagen nur Grenzverbrechen in ihrem Aufgabenbereich, später auch Unrechtsurteile und Misshandlungen in Gefängnissen. Bis zur Wiedervereinigung dokumentierte die Zest so rund 42 000 mutmaßliche Verbrechen. „Wir sind im Grunde das schlechte Gewissen der DDR“, fasst Grasemann zusammen.

Die Behörde sammelte Berichte von freigekauften DDR-Bürgern und Menschen, die von der Westseite aus Zeuge von Grenzverbrechen geworden waren. Doch das Prinzip hatte ein Manko: Die mutmaßlichen Verbrechen konnten nicht verfolgt werden. „Uns fehlte im Grunde die Täterseite“, sagt der Jurist Grasemann. Doch 1990 änderte sich das: „Die Täterseite eröffnete sich mit dem Ende der DDR und damit der Öffnung der Akten.“ Dort seien viele Vorfälle vermerkt gewesen, oder sie wurden durch diese Dokumente leichter verfolgbar.

Rechtlich gesehen war die Arbeit der Zentralen Erfassungsstelle umstritten. Schließlich verstand sich die DDR als souverän. Von der Zest, die Verbrechen des sozialistischen Staates dokumentierte und anprangerte, sah sie ihre Autorität untergraben.

Doch auch im Westen war man sich nicht einig. Die Befürworter beriefen sich laut der Historikerin Fröhlich darauf, dass es Kernbereiche von Recht gebe, gegen das kein Gesetz - auch nicht das der DDR - verstoßen dürfe. Kritiker waren der Meinung, dass beispielsweise die Schusswaffenbestimmungen als geltendes Recht der DDR anzuerkennen seien. Schießende Grenzposten könnten deshalb in der BRD nicht bestraft werden.

Der Grenzer, der den 18-Jährigen am Elbufer angeschossen hatte, wurde bestraft. Selbst nach DDR-Recht hätte er offiziell nicht schießen dürfen, denn die Flucht war ja schon passiert, sagt Grasemann. Außerdem gingen die Schüsse auf westliches Gebiet. Das Landgericht Lüneburg verurteilte ihn laut Grasemann wegen versuchten Totschlags.

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