Sicherheitskonferenz: Die EU zeigt in München ihre Milchzähne

Auf der Sicherheitskonferenz sind Russland und die USA in die drohende Tonlage des Kalten Krieges zurückgefallen, während die EU weiter ihren Weg in die Weltpolitik sucht.

Sicherheitskonferenz: Die EU zeigt in München ihre Milchzähne
Foto: dpa

München. Das einzige positive Signal, das die Europäer hätten senden können, bekamen sie nicht hin: Ein bereits verabredetes Treffen der Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine im so genannten „Normandie-Format“ — es wäre das erste seit mehr als einem Jahr gewesen — zu einem möglichen Blauhelmeinsatz in der Ukraine sagten die Minister ab; aus „Termingründen“. Die wirklich wichtigen Staats- und Regierungschefs Putin, Macron, Merkel und Trump machten wohlweislich einen Bogen um die 54. Münchner Sicherheitskonferenz, auf der ihre Diplomaten durchweg aggressive Töne anschlugen.

General Herbert McMaster, Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, drohte vom Rednerpult im feudalen „Bayerischen Hof“ dem syrischen Präsidenten Baschar al Assad wegen dessen neuerlichen Chemiewaffeneinsätzen und wetterte gegen die „Schurkenregime“ in Nordkorea und im Iran. Der russische Außenminister Sergej Lawrow wies dem Westen die Schuld für den schlechten Zustand der internationalen Beziehungen zu und verlangte Respekt für Russland — das sich übrigens eine starke EU wünsche; wohl in dem Wissen, das dies nicht droht. Konferenz-Chef Wolfgang Ischinger erklärte am Mittag zum Abschluss der Konferenz, er hatte gehofft, das Fragezeichen aus dem Konferenztitel „Bis an den Abgrund — und zurück?“ am Ende der Veranstaltung löschen zu können. Er sei sich da nach drei Tagen nicht so sicher: „Die schlechte Nachricht ist: Wir haben nicht genug gehört, was nun an konkreter Arbeit getan werden soll, um Visionen zu verwirklichen und Schrecken abzuwehren. Lassen Sie uns Montagmorgen an die Arbeit gehen und uns in einem Jahr wieder hier treffen.“

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu machte noch einmal deutlich, dass dem Syrien- und Nahost-Konflikt eine weitere Verschärfung droht. Netanjahu brachte ein Trümmerteil einer über Israel abgeschossenen iranischen Drohne mit und ließ keinen Zweifel an der Bereitschaft Israels, sich auch mit direkten Angriffen auf den Iran zu verteidigen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mahnte wie üblich mehr Europa und eine Vereinfachung der Abstimmungsprozesse an: „Wenn wir weltpolitikfähig werden wollen, müssen wir das Prinzip der Einstimmigkeit aufgeben.“

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki verlangte „mehr Kampfpanzer und weniger Denkfabriken“ in der EU. Der neue österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz erklärte, die EU sei „da und dort falsch abgebogen“ und verlangte neben einer Konzentration auf Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie EU-Strukturreformen einen besseren Schutz der Außengrenzen. Dazu lieferte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim eine ganz eigene Lesart des völkerrechtswidrigen Einmarsches in Syrien und dem Androhen von „osmanischen Ohrfeigen“ für die USA: „Wir schützen die Grenze der Nato. Die anderen arbeiten mit Terroristen zusammen.“ Die Türkei sorge für die Sicherheit Europas und habe die Zahl der Flüchtlinge von 2000 auf weniger als 70 am Tag gesenkt. Das müsse gewürdigt werden. Die Türkei habe durch Terroristen an der Grenze mehr als 45 000 Menschen verloren: „Das ist doch klar, dass wir da die stärkste mögliche Ohrfeige geben.“

Frankreichs Ministerpräsident Edouard Philippe warb für den europäischen Verteidigungspakt und kündigte höhere Verteidigungsausgaben Frankreichs an. Eindringlich warnte Philippe Chinas Weltmachtbestrebungen, wie das auch Deutschlands Noch-Außenminister Sigmar Gabriel in einer der bemerkenswertesten und zugleich verstörendsten Reden des zweiten Konferenztags tat: China, so Gabriel, entwickele „eine umfassende Systemalternative zur westlichen, die nicht wie unser Modell auf Freiheit, Demokratie und individuellen Menschenrechten gründet.“

Für Gabriel steht die Weltgeschichte damit an einem Wendepunkt: „Es geht wieder um die Freiheit“, sagte Gabriel nicht ohne Pathos. Wie schon vor Beginn der Konferenz bemühte der Außenminister ein Bild aus der Ernährung, um Europas Bedingungen einer „gemeinsamen Machtprojektion in der Welt“ zu erklären: „Die darf sich nie auf das Militärische allein konzentrieren, aber sie darf auch nicht vollständig darauf verzichten. Denn als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.“

Verstörend war Gabriels Rede deshalb, weil sie an vielen Stellen bewusst sowohl als Abschied wie auch als innerparteiliche Bewerbung zu verstehen war: „Es liegt an uns, ob wir die Zukunft als Schicksal betrachten und uns in der Zwischenzeit an kleinen internen Meinungsverschiedenheiten aufreiben“, sagte Gabriel zum Schluss, und mit einem Zitat Benjamin Franklins auf Englisch: „We must, indeed, all hang together or, most assuredly, we shall all hang separately.“ (Deutsch: Wir müssen in der Tat alle zusammenstehen, oder wir werden mit Sicherheit alle einzeln hängen.)

Die designierte SPD-Chefin Andrea Nahles reagierte am Wochenende betont unterkühlt auf Gabriels verhandlerisches Meisterstück, am Freitag die Freilassung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel aus türkischer Haft erreicht zu haben. Zuvor hatte sie ihm eine Kampagne in eigener Sache vorgeworfen und laut „Spiegel“ erklärt: „Die Mitglieder der SPD haben die Faxen dicke von den ewigen Personaldebatten.“ Die bräuchte es nach Umfragen gar nicht zu geben: Gabriel ist derzeit der beliebteste Politiker der SPD.

Das Verhältnis von Andrea Nahles und dem kommissarischen SPD-Vorsitzenden Olaf Scholz zu Gabriel ist von einer jahrelangen politisch-persönlichen Fehde geprägt und gilt als zerrüttet. Das Redemanuskript von Sigmar Gabriel zur Sicherheitskonferenz gibt es hier: goo.gl/725tKw

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