Interview Sicherheit für Europa: Es kommt auf Deutschland und Frankreich an

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur, die Rolle Russlands und die Gefährdung der Demokratie.

Kampf um die Aufrechterhaltung einer Selbstbindung der Europäer: Bundeskanzlerin Angela Merkel empfängt den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Berlin mit militärischen Ehren.

Kampf um die Aufrechterhaltung einer Selbstbindung der Europäer: Bundeskanzlerin Angela Merkel empfängt den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Berlin mit militärischen Ehren.

Foto: Britta Pedersen

Düsseldorf. Unsicherheit — das ist in vielerlei Hinsicht der zentrale Begriff, wenn die außen- und sicherheitspolitische Entwicklung der jüngsten Zeit aus europäischer Perspektive bewertet werden soll, gerade auch in Bezug auf das Verhältnis zu den USA. Einer, der sich mit einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa schon intensiv befasst hat, ist der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Seine politikstrategischen Überlegungen hat er in der Juli-Ausgabe des „Merkur“ veröffentlicht, der „Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“.

Herr Münkler, was bedeutet der Gipfel von Trump und Putin in Helsinki für Europa?

Herfried Münkler: Er hat den Europäern noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt, dass sie bei der US-amerikanischen Russlandpolitik keine Rolle spielen. Sondern der amtierende amerikanische Präsident macht das vermutlich nach Lust und Laune entlang der Vorstellung, eine möglichst gute Presse zu haben, was in diesem Fall gründlich danebengegangen ist, und gemäß seiner Leitlinie „America first“, also nicht mit Blick auf eine amerikanisch-europäische Wertegemeinschaft. Das ist es, was die Europäer begreifen müssen, und zwar in Bezug auf die gesamten sicherheits- und außenpolitischen Überlegungen des amerikanischen Präsidenten.

Wenn sich die USA aus ihrem globalen Ordnungsanspruch zurückziehen: Wer ist am ehesten in der Lage, diese Lücke zu füllen?

Münkler: Keiner. Die vergangenen 20 Jahre haben gezeigt: Eine einzige Macht ist als Hüter der globalen Ordnung überfordert und auch die reichen USA haben das nicht geschafft. Deswegen kann man nicht erwarten, dass die unter dem Strich sehr viel ärmeren Chinesen das jetzt schaffen.

Was ist die Alternative?

Münkler: Wir werden in eine Situation zurückkehren, in der sich weltweit mehrere Akteure diese Ordnungsaufgabe teilen. In der Zeit des Ost-West-Konflikts waren das zwei: die USA auf der einen und die Sowjetunion auf der anderen Seite. Und dann gab es noch die sogenannte Dritte Welt, die ungeordnet war, weswegen dort auch die vielen Stellvertreterkriege stattgefunden haben. In der Zeit davor waren es, auf Europa bezogen, oft fünf Mächte. Bismarck hat gerne von dem Spiel mit den fünf Kugeln gesprochen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Ordnung des 21. Jahrhunderts über kurz oder lang auch ein solches Fünfersystem sein wird: mit den USA, China, Russland und der EU, wenn diese die nächsten Jahre politisch überlebt. Wer der Fünfte sein wird, ist noch offen: vielleicht Indien, vielleicht auch Brasilien.

Ist Russland für Europa wichtiger geworden als die USA?

Münkler: Wichtiger würde ich nicht sagen. Aber es hat sich gezeigt, dass die Russen bei den für Europa wirklich bedrängenden Problemen derzeit eine relevantere Rolle spielen als die USA: nämlich was den Zusammenbruch der Ordnung im Nahen Osten sowie die Labilität von Ordnungsstrukturen an der gegenüberliegenden Mittelmeerküste und an der weichen Südostflanke der EU vom westlichen Balkan bis zur Ägäis betrifft. Das war nicht immer so: In den 1990er Jahren waren die USA entscheidend für die Beendigung der jugoslawischen Zerfallskriege. Sie haben auch ein halbes Jahrhundert lang im Nahen Osten die entscheidende Rolle gespielt. Aber schon unter Obama hat sich das geändert. Das heißt nicht, dass die Russen jetzt der bessere Freund sind. Es kann auch bedeuten, dass sie der einflussreichere Gegenspieler sind. Aber wenn die Europäer in diesen Räumen etwas hinbekommen wollen, und das müssen sie wohl, um sich abzusichern, dann sind sie auf eine strategische Kooperation mit den Russen angewiesen.

Sie sprechen vom Ende des Westens, wie wir ihn kannten. Sind damit auch die Werte am Ende, auf die sich der Westen immer berufen hat: Demokratie, Freiheit, Menschenwürde?

Münkler: Das wird man im Augenblick sagen müssen — jedenfalls als gemeinsam bindende Werte. Ob das für alle Zeiten gilt, ist offen. Aber auch die Europäer verabschieden sich davon ja mit der Abschottung gegen die Flüchtlinge in nicht unerheblichem Maße. Und die USA haben das in dem Trump’schen Projekt, eine Mauer bauen zu wollen, noch sehr viel deutlicher getan — nachdem wir 1989 den Fall einer Mauer gefeiert haben. Auch ansonsten hat sich das Projekt eines gemeinsamen Wertebezugs als heikel herausgestellt. Er ist schon innerhalb der EU nicht gegenüber allen Mitgliedern durchzusetzen. Die deutsch-französische Achse hat alle Hände voll zu tun, um gewisse Selbstbindungen der Europäer aufrechtzuerhalten.

Und außerhalb der EU?

Münkler: Das Bemerkenswerte in den USA ist ja eine Wählerschaft, die trotz dessen notorischen Fehlleistungen und grotesken Clownerien fest zu diesem Präsidenten steht. Also sind relevante Gruppen der US-Gesellschaft, auch wenn sie vielleicht nicht die Mehrheit stellen, offenbar nicht der Auffassung, dass diese Werte zentral und verpflichtend sind. Insofern ist diese Wertegemeinschaft starken zentrifugalen Kräften ausgesetzt.

Sie haben die drei großen Herausforderungen Europas an seinen Rändern skizziert: im Nahen Osten, am Mittelmeer und an der Südostflanke. Welche ist die wichtigste davon?

Münkler: Wenn die Wichtigkeit von den Handlungschancen her bestimmt wird, dann würde ich die Stabilisierung der Südostflanke vom Westbalkan bis zum ägäischen Meer nennen. Denn wenn das auseinanderbricht, verändern sich alle Erklärungen über stabile EU-Außengrenzen fundamental. Vielleicht ist die Neuordnung des Nahen Ostens eigentlich bedrängender, aber die Chancen der Europäer, hier Einfluss zu nehmen, sind doch relativ überschaubar. Und das gilt letzten Endes auch für die gegenüberliegende Mittelmeerküste, also den Maghreb und die hinter der Sahara liegende Sahelzone.

Sie fordern, dass sich Europa nicht allein zu seinen Werten, sondern auch stärker zu seinen geopolitischen Interessen bekennen soll. Ist das nicht gefährlich angesichts der repressiven und antidemokratischen Tendenzen auch innerhalb der EU?

Münkler: Ich glaube eher, dass die Zentrifugalkräfte Europas durch eine relativ lange Unaufmerksamkeit der Europäer gegenüber ihren relevanten geopolitischen Herausforderungen gestärkt worden sind. Zu diesen Herausforderungen gehörte Afghanistan übrigens nicht. Aber wenn wir Europäer schon vor längerer Zeit versucht hätten, Einfluss auf Entwicklungen im Vorderen Orient zu nehmen, wären bestimmte Formen der Entsolidarisierung in Migrationsfragen womöglich nicht entstanden.

Wie meinen Sie das?

Münkler: Ich meine die Selbstblockade der arabisch-islamischen Welt. Das hat mit Erdöl sowie kulturellen und religiösen Faktoren zu tun. Die Amerikaner haben mit dem Irakkrieg versucht, diese Selbstblockade aufzubrechen, und sind damit krachend gescheitert. Die Europäer haben danach gedacht, die Veränderung kommt von innen und die Zivilgesellschaften zeigen den Amis mal, wie es geht. Aber herausgekommen ist nur eine einigermaßen erfreuliche Entwicklung in Tunesien und ansonsten eine Katastrophe nach der anderen. Daran lässt sich gut beschreiben, wie ein Mangel an strategischer Ausrichtung dazu führt, dass man permanent auf Kante näht und keine längerfristige Linie erkennen lässt.

Einerseits schwindet die Bereitschaft der Großmächte, in eine Ordnung zu investieren, von der auch andere profitieren. Andererseits sagen Sie, eine Stabilisierung beispielsweise der europäischen Südostflanke lasse sich nur mit viel Geld erreichen. Woher soll denn die Bereitschaft dazu kommen?

Münkler: Diese Schwierigkeit ist natürlich da. Wir haben das bei der Rettung Griechenlands gesehen. Und hätte sich Frau Merkel im September 2015 in der Migrationsfrage anders entschieden, wäre Griechenland im Chaos versunken und alle Investitionen in die Stabilität wären abzuschreiben gewesen. Aber wenn ich von der schwindenden Bereitschaft spreche, in eine globale Ordnung zu investieren, meine ich damit etwas, das weit jenseits der eigenen Interessen liegt. Peter Strucks Satz „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ war für die meisten Leute so nicht nachvollziehbar. Ein solcher Satz wird aber in der näheren geopolitischen Umgebung eines Großraums nachvollziehbar, der sich selbst als Raum des Friedens und Wohlstands begreift. Wenn sich die globale Ordnung auf die Einflusssphären von fünf Mächten verteilt, bedeutet das auch die Rücknahme der Reichweite von Investitionen und das Verknüpfen eines Einstehens für andere mit den eigenen Interessen. Das könnte dann zumindest von den einigermaßen vernünftig denkenden Wählern nachvollzogen und auch mit Unterstützung belohnt werden.

Was muss sich in der EU ändern, damit sie in der multipolaren Welt nicht unter die Räder kommt?

Münkler: Politik mit 27 Stimmen zu machen, ist schwierig. Man kann das vielleicht im Hinblick auf Vereinheitlichungen im Inneren ganz gut organisieren. Aber in der Außenpolitik ist ein uneinheitliches Auftreten eine Form der Selbstmarginalisierung. Um auf den Anfang des Gesprächs zurückzukommen: Was lernen wir aus dem Treffen von Trump und Putin in Helsinki? Die Europäer müssen es schaffen, eine einheitliche Außen- und Sicherheitspolitik hinzubekommen.

Wer soll das machen?

Münkler: Nach dem Stand der Dinge die deutsch-französische Achse. Ihr werden sich einige anschließen und andere nicht. Dadurch entsteht in der EU so etwas wie eine innere Hierarchie, die dann auch sichtbarer wird. Die Italiener haben sich ja schon länger aus dem Spiel genommen, und die Briten haben sich inzwischen in eine Situation der Einflusslosigkeit hineinmanövriert. Wenn also die Deutschen und die Franzosen das nicht stemmen, wird die EU zerfallen.

Die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright warnt in ihrem neuen Buch vor einem neuen Faschismus, der die demokratischen Systeme von innen zerfrisst. Sehen Sie die Gefahr auch?

Münkler: Ich würde schon sagen, dass die Demokratie in einem globalen Leistungswettbewerb steht. China ist zurzeit in mancher Hinsicht attraktiver, weil es politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität in einer sehr eindrucksvollen Weise miteinander verbindet. Die Demokratie, die auf Entschleunigung und Fehlervermeidung hinausläuft, weist da gelegentlich Defizite auf, zumindest kurzfristig betrachtet. Und darauf reagieren Wähler mit dem starken Wunsch nach einem starken Mann oder einer starken Frau. Die Wahlen innerhalb der westlichen Demokratien haben das in den letzten Jahren ja ziemlich deutlich zum Ausdruck gebracht. Das hat auch mit Gefühlen der Unsicherheit und Ungewissheit zu tun. Dagegen muss angearbeitet werden. Wenn man diese Dinge laufen lässt, würde ich nicht ausschließen, dass einige Staaten in faschistische oder zumindest autoritäre Strukturen kippen. Und dann kann ein Dominoeffekt eintreten, wie man ihn schon in den 1930er Jahren in Europa beobachtet hat.

Sie haben geschrieben, dass die aktuelle weltpolitische Konstellation Kriege wahrscheinlicher mache. Auch einen Weltkrieg?

Münkler: Nein, nicht im Hinblick auf einen Weltkrieg. Ich sehe weder eine Konfrontation der Nuklearmächte noch eine Wiederkehr des Kalten Krieges, weil es die Sowjetunion und auch den Westen in der damaligen Form nicht mehr gibt. Die eigentliche Kriegsgefahr besteht dort, wo relativ kleine Akteure mit billigen Mitteln neue Kriege führen können, um diese in ökonomische Ressourcen zu verwandeln. Das kann man in der Subsahara und der Sahelzone, aber auch in Zentralasien beobachten. Zugleich gibt es im Nahen Osten eine Rückkehr der Wertekonflikte bei gleichzeitigem Rückzug des bisherigen Weltpolizisten USA. Wir werden den vergleichsweise stabilen Konstellationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nachtrauern.

Wie optimistisch ist der Blick des Wissenschaftlers auf die Weltlage?

Münkler: Für einen Wissenschaftler ist Ultrastabilität eher etwas Langweiliges. Für den von dynamischen Veränderungen bedrohten und beunruhigten Bürger, der ich ja auch bin, stellt sich das ganz anders dar. Aber ich glaube, dass es Grund zur Zuversicht gibt. In Europa ist inzwischen eine Aufmerksamkeit für diese dynamischen Veränderungen entstanden und ein Bewusstsein, dass man darauf reagieren muss. Das hebt sich positiv ab von der relativ langen Phase, in der Europa geglaubt hat, das sicherheitspolitische Mündel der USA sein und bleiben zu können. Ich bin auch zuversichtlich, dass die Europäer mit den Herausforderungen fertig werden können. Das heißt aber nicht, dass sie das selbstverständlich tun, sondern es wird dazu großer Anstrengungen bedürfen. Dazu gehört auch, die innere Spaltung unserer Gesellschaft zu überwinden, um so die Zuversicht in die politische Handlungsfähigkeit zu stärken.

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