Popmusik: Die Musik, die das Land bewegte

Was die Deutschen hörten, verriet lange Zeit, wovon sie träumten: Von der exotischen Folklore der frühen Fünfziger bis zu den Ärzten, Xavier Naidoo und Silbermond.

Düsseldorf. Die Zeiten haben sich geändert, aber eines ist den Deutschen geblieben: die Sehnsucht. Als Fernweh getarnt, zieht sie sich durch die Musik-Charts der vergangenen 60 Jahre wie der hartnäckige Kondensstreifen eines Urlaubsfliegers.

Das Land in Trümmern, drängte es die frischen Bundesrepublikaner nach heiler Welt, fremdartigen Klängen, simplen Ventilen, die sie ihren verstaubten Alltag und die schreckliche Vergangenheit des Dritten Reiches vergessen ließen.

Entsprechend war die Populärkultur des jungen Staates von Eskapismus geprägt. Je weiter weg ein Film oder eine Platte zu entführen vermochte, desto besser. Besonders in den frühen Jahren, bevor das Wirtschaftswunder griff und die Deutschen zu Reiseweltmeistern avancierten, waren die Hits, zu denen getanzt wurde, in gefällige Passform gebrachte Folklore entlegenster Winkel.

Beschwingter Kalypso oder die verschlungene Habanera, die mit "La Paloma" von Freddy Quinn am bekanntesten wurde, waren Ausdruck eines kollektiven Wunsches nach Ausbruch und Exotik - auch wenn die Resultate mit deutschen Texten und knödelnden Stimmen aus heutiger Sicht eher nach einem unfreiwillig komischen Themenabend im Cluburlaub klingen.

Die erste deutsche Nummer Eins beispielsweise, die 1953 offiziell gelistet wurde, trug den heimeligen Titel "Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand", was nicht vermuten ließe, dass der Song von Hula-Klängen und CountryGitarren getragen war.

Gesungen wurde dieser bizarre Zwitter von einer niederländischen Combo, den Klima Hawaiians. Unzählige Eintagsfliegen wie die Hilo Hawaiians oder das Hula Hawaiian Quartett folgten. Bevor Fernreisen erschwinglich waren, wurden sie auf Vinyl gepresst.

Dieses Phänomen wusste die Plattenindustrie zu nutzen. Künstler aus Urlaubsländern wie Italien wurden regelrecht importiert. Allerdings wollte die Masse zu Beginn dieser Musikerwanderung noch verstehen, was sie hörte. Deswegen sangen Rocco Granata und Caterina Valente, später dann Nana Mouskouri, Cliff Richard, Connie Francis oder Petula Clark ihre Hits auf Deutsch.

Auch die Alliierten verankerten ihre ureigenen Genres über die Jahrzehnte in der Bundesrepublik. Amerikanischer Rock’n’Roll, britischer Beat und französische Chansons bestimmten ab den sechziger Jahren die Hitparaden und sorgten vor allem dafür, dass Songs in ihrer Muttersprache zum Erfolg wurden.

Diese Abkehr vom Eindeutschen war die erste popkulturell ausgefochtene Rebellion der Kriegskinder-Generation. Um sich vom behäbigen Gassenhauer-Einerlei ihrer Eltern abzuheben, hörten sie die Radiosender der Besatzer, über die Bands wie die Beatles, die Kinks und die Rolling Stones ihren Weg nach Deutschland fanden.

Eigene Musik hatte es in den ersten 20 Jahren der Bundesrepublik schwer. Deutsch gesungene Schlager mussten entweder einen drolligen Akzent so wie bei Siw Malmkvist haben oder die Kopie eines englischsprachigen Originals sein. Die Lords wurden zu den deutschen Beatles, und Elvis Presley fand hierzulande sogar zwei Nachahmer: Peter Kraus und Ted Herold.

Weltweite Trends, die von Deutschland aus losgetreten wurden, gab es erst wieder ab den siebziger Jahren. Die Elektronik als letztes unbeackertes Feld der Tongewinnung sollte zur Domäne made in Germany werden. Hierzulande ließen diese Kreuzungen aus Synthesizer und Gitarrenrock die Masse zunächst kalt.

Kraftwerk aus Düsseldorf perfektionierten die Abkehr von gewohnten Hörmustern ab 1975 zu einem minimalistischen Computer-Sound, der als Wegbereiter sämtlicher Elektronik fungierte. Die Neue Deutsche Welle der 80er fußt ebenso darauf wie der Techno der 90er.

Lange war der Massengeschmack von den britischen und amerikanischen Charts geprägt. Der Deutsche fremdelte mit der eigenen Sprache. Zum einen sicher, weil der Schlager ihr seinen seichten Stempel aufgedrückt hatte, zum anderen, weil das Fremde spannender war - und wenn es nur daran lag, dass man nicht verstehen musste, dass der ausländische Text im Zweifel genauso peinlich ist.

Diese Geziertheit war auch der Grund dafür, dass deutsche Produzenten wie Frank Farian, Giorgio Moroder oder Dieter Bohlen auf Englisch singen ließen. Natürlich wollten sie damit auch ihre Chancen auf dem Weltmarkt wahren. Aber in erster Linie lag ihnen daran, einen Misserfolg im eigenen Land zu verhindern.

Von Dauer waren hierzulande nur die Karrieren der deutschsprachigen Künstler, die etwas zu erzählen haben, die Sprache als Instrument benutzen und Lyrik nicht mit Schüttelreimen verwechseln. Das Genre, das sie bedienen, ist dabei zweitrangig: Bei Udo Jürgens findet man genauso gute Texte wie bei Herbert Grönemeyer, den Fantastischen Vier, den Ärzten oder Wir sind Helden.

Dieses Selbstbewusstsein im Umgang mit der eigenen Sprache wussten viele neue Bands in den vergangenen zehn Jahren konsequenter umzusetzen als zuvor. Xavier Naidoo, Silbermond und zuletzt Peter Fox kurbelten die Deutsch-Quote in den Charts nach oben. Es mag ja in diesem Zusammenhang nur Zufall sein: Zeitgleich wurde Urlaub im eigenen Land auch wieder beliebter.

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