Parteitag: Die alte SPD ist Geschichte

Der scheidende SPD-Chef Müntefering übt Selbstkritik und verhindert dadurch das Schlimmste. Sein Nachfolger Gabriel startet furios.

Dresden. So mancher hatte gezittert vor dem Auftritt des Patriarchen Franz Müntefering, seinem letzten als SPD-Chef. Doch am Ende atmete der Parteitag in Dresden auf: Die befürchtete Generalabrechnung mit den innerparteilichen Gegnern blieb aus.

Müntefering beließ es dabei, nur ein paar Andeutungen zu machen. Außerdem zeigte er sich überraschend selbstkritisch und verhinderte so, dass die anschließende Aussprache zu einem allzu schlimmen Scherbengericht der Delegierten für die Verantwortlichen der Reformpolitik wurde.

Allerdings fiel auch dieses auf: Den Namen seines Nachfolgers, Sigmar Gabriel, erwähnte der scheidende Parteivorsitzende mit keinem Wort.

Das musste er auch nicht. Als am Abend Gabriel selbst ans Rednerpult trat, war Müntefering schon längst in die Rente mit 69 geschickt. Der designierte Parteichef begann denkbar soft und wandte sich an eine Delegierte, die Gabriels Kandidatur zuvor massiv kritisiert hatte. "Bitte gib mir eine Chance", bat er sie, gab zu, dass er Lampenfieber hat - und wirkte dabei knuffelig-charmant wie ein Teddybär. Doch dann zündete er ein Rhetorik-Feuerwerk, das die SPD so schon lange nicht mehr erlebt hatte.

Gabriel machte, wie zuvor schon Müntefering, Anleihen bei Willy Brandt. Dieser sei Bundeskanzler geworden, weil er die Mitte gewonnen habe - ebenso wie Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Allerdings sei die Mitte "kein fester Ort". Die Mitte gewinne, wer die Deutungshoheit erreiche. Und hier sei auch der Fehler der vergangenen Jahre zu suchen. "Statt die Mitte zu verändern, haben wir uns verändert."

Die Hartz-IV-Reformen hätten die eigenen Genossen irritiert und bei den Wählern Ängste ausgelöst. Und von einer Krankenschwester zu verlangen, mit 67 noch Patienten zu heben, sei schlicht unrealistisch.

Was aus dieser Analyse folgt, ließ Gabriel freilich offen. Man müsse nicht jetzt schon alle Antworten kennen. Vielmehr solle die Partei diese Themen "von unten nach oben diskutieren". Eines aber stehe fest: Man lasse es der schwarz-gelben Koalition nicht durchgehen, die Mitte zu besetzen. "Links und Mitte schließen sich nicht aus."

Die Delegierten schauten sich ebenso begeistert wie verwundert an: Ist das jener Gabriel, dem sie bei vergangenen Parteitagen so miserable Wahlergebnisse beschert hatten? Mit einem einfachen Trick schien er alle Probleme zu lösen: Die SPD kann sich nach links öffnen, ohne dass dies notwendig ein Linksruck ist - weil sich nach der neuen Lesart schlicht die Mitte verschiebt. Ob dieser Logik auch der Wähler folgt?

Aber darum geht es nicht beim Parteitag der SPD in Dresden. Es geht noch bis Sonntag Nachmittag um Selbstfindung, um Selbstreinigung. Und dazu hatte Müntefering am Vormittag einen Beitrag geleistet. Auch seine Rede war verbal kämpferisch.

Er beschwor die lange Geschichte, die große Tradition der linken Volkspartei. Doch er tat dies merkwürdig emotionslos und zurückgenommen. "Wenn es um mich heiß wird, dann werde ich ganz kühl", hatte er vor Jahren einmal in einem Interview mit unserer Zeitung gesagt. Womöglich war Müntefering am Freitag ganz kühl, weil er fürchtete, es könne noch heiß werden.

Er sollte Recht behalten. Zwar vermieden es die Delegierten, mit Müntefering persönlich abzurechnen. Dennoch war die Aussprache ungewöhnlich lang, ernsthaft und vor allem offen. Während sich bei sonstigen Parteitagen das Plenum zwischendurch meist ziemlich leert, harrten die Delegierten diesmal stundenlang auf ihren Plätzen aus und verfolgten die Debatte konzentriert.

Müntefering hörte sich das, was die Funktionärs-Basis zu sagen hatte, an: ruhig, regungslos - scheinbar ungerührt. Doch auch ihm war klar: Seit Freitag ist der Münte-Effekt Geschichte. Von sofort an gibt es den Gabriel-Effekt.

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