NS-Zeitungen weiter im Giftschrank?

Ein wissenschaftlich begleitetes Projekt veröffentlicht Nazi-Blätter in Faksimile. Bayern lässt die zweite Ausgabe beschlagnahmen.

Düsseldorf. Ein Stück notwendiger historischer Aufklärung oder nur wissenschaftlich verbrämte NS-Propaganda? Glaubt man den Beamten des bayerischen Finanz- und Justizministeriums, so hat das von renommierten deutschen Historikern begleitete NS-Projekt "Zeitungszeugen" eine so hohe "Missbrauchsgefahr", dass jetzt sogar Polizei und Staatsanwalt in Marsch gesetzt wurden. Seit Freitagabend beschlagnahmen Beamte die neueste Ausgabe an den Kiosken. "Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" ist der Vorwurf. Zudem stützt sich die bayerische Landesregierung auf die Urheberrechte, und die liegen für alle Nazi-Vermögenswerte - dazu zählen auch die NS-Zeitungen "Angriff" und "Völkischer Beobachter" - beim Finanzministerium in München.

Um diese beiden Nazi-Hetzblätter geht es im Streit um "Zeitungszeugen". Das Projekt des britischen Verlegers Peter McGee - wissenschaftlich begleitet von einem hochkarätig besetzten Beirat um die Professoren Hans Mommsen und Wolfgang Benz - startete in der ersten Januarwoche mit der Sammeledition zu Hitlers Machtergreifung im Januar 1933. Jeder Ausgabe liegen drei Reproduktionen von Zeitungen dieser Tage bei. Eingeordnet, analysiert und kommentiert werden die Ausgaben jeweils von führenden Historikern. Im Wochentakt sollen Editionen folgen, bis zum Zusammenbruch der NS-Herrschaft im Mai 1945.

Der ersten Ausgabe lagen im Faksimile die deutschnationale "Deutsche Allgemeine Zeitung", das KPD-Blatt "Kämpfer" und der NS-"Angriff" bei. In der vorigen Woche folgte die zweite, jetzt beschlagnahmte Edition zum Reichstagsbrand am 27.Februar 1933. Hier liegen die Ausgaben der liberalen "Vossischen Zeitung", des SPD-"Vorwärts" und des NS-Blattes "Völkischer Beobachter" bei. Die vierseitige wissenschaftliche Einordnung hat der Bochumer Historiker Hans Mommsen übernommen.

Die jüngste Ausgabe enthält zudem noch den Nachdruck eines Plakats, das die Nazis schon in der Nacht des Brandes im gesamten Reich klebten: "Der Reichstag brennt! Von Kommunisten in Brand gesteckt!" Und weiter neben einem Hakenkreuz: "Zerstampft den Kommunismus! Zerschmettert die Sozialdemokratie!" In der Tat wurden noch in dieser Nacht fast die gesamte 100-köpfige Reichstagsfraktion der KPD und nicht wenige SPD-Reichstagsabgeordnete in die Folterkeller der Gestapo verschleppt. Nur so konnte Hitler wenig später das Ermächtigungsgesetz mit Hilfe der bürgerlichen Parteien und des Zentrums scheinbar formal korrekt durch den Reichstag bringen.

Für die bayerischen Behörden ist der Nachdruck des "Völkischen Beobachters" und des NS-Plakats nicht nur eine Urheberrechtsverletzung, sondern auch "die Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda", was von den renommierten Wissenschaftlern zumindest "billigend in Kauf genommen" werde. Diese "Provokation" der Historiker mache den Eingriff in die Pressefreiheit "unvermeidlich".

Der Historiker Hans Mommsen ist über dieses Vorgehen "bestürzt". Eine Aufklärung, die auf die "fundierte Analyse der Originaldokumente" verzichte, sei schlicht unmöglich. "Nur wer Hitlers Hassreden und Goebbels’ Hetztiraden nachgelesen hat, kann sich ein authentisches Bild über den Weg in die schlimmste Katastrophe in der Geschichte der Neuzeit machen." Das von Bayern angestrebte Verbot des "Zeitungszeugen"-Projekts sei "ein höchst ungeschickter Beitrag zur Mystifizierung der NS-Propaganda", so Mommsen.

Formal stützt sich Bayern auf einen 60 Jahre alten Auftrag der US-Besatzungsmacht. Mit der Übertragung und Verwaltung der Nazi-Vermögenswerte war die Auflage verbunden, jede politische Verwendung zu verhindern.

Diese "Giftschrank-Politik" steht jedoch auch rechtlich auf ziemlich schwachen Beinen. Zum einen endet das Urheberrecht in Deutschland in der Regel nach 70Jahren, womit Bayern bei Zeitungen vor 1939 keinerlei Zuständigkeit mehr hätte. Zum anderen ist die in Artikel5 des Grundgesetzes garantierte Freiheit der Wissenschaft gewiss höher einzuschätzen als eine Weisung der Besatzungsmacht aus dem Jahr 1946. Denn um ein Projekt, das Geschichte auf wissenschaftlicher Basis populär machen will, handelt es sich bei "Zeitungszeugen" wohl ohne jede Frage.

Und es zeigt - gerade mit dem Abdruck der Originaldokumente -, was jedermann von den Vorgängen im Dritten Reich wissen konnte, wenn er es denn nur wissen wollte.

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