NRW-Ministerpräsidentin bei Youtube Video-Selfies von Hannelore Kraft - Tagebuch-Offensive als Novum

Eine Ministerpräsidentin macht Videos von ihrem Politikalltag. Das Selfie-Tagebuch von Hannelore Kraft ist ein Novum, ein Experiment. Die NRW-SPD-Chefin zeigt sich auch ungeschminkt und abgekämpft.

Ein Youtube-Nutzer schaut sich in Düsseldorf ein Video-Tagebuch von Hannelore Kraft an.

Ein Youtube-Nutzer schaut sich in Düsseldorf ein Video-Tagebuch von Hannelore Kraft an.

Foto: Federico Gambarini

Düsseldorf. Eine müde, ungeschminkte Hannelore Kraft sitzt in ihrem Dienstwagen, morgens kurz vor neun, auf dem Weg nach Düsseldorf. Post und Zeitungen stapeln sich auf dem Sitz neben ihr. „Erst mal muss ich gucken, dass ich klarkomme“, sagt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin in die Kamera, die sie selbst hält. Auftakt zu einer Video-Serie, die inzwischen fünf Blogs umfasst und einen ungeschönten Einblick ins Alltagsleben der SPD-Spitzenpolitikerin geben soll. Der YouTube-Zuschauer ist dabei auf Tuchfühlung. Das ungewöhnliche Video-Tagebuch-Experiment - ein vergleichbares Format ist von keinem anderen Regierungschef in Deutschland bekannt - löst unterschiedliche Reaktionen aus.

„Gut“ oder „witzig“ loben Stimmen im Netz. Tausende haben die Kraft-Selfie-Videos angeklickt. Einer meint: „Von Ihrer Idee sollten sich alle Politiker (...) eine Scheibe abschneiden“. Jemand schreibt: „Ich finde, dass den Menschen bewusst wird, wie viel Arbeit und Aufwand hinter so einem Amt steckt.“ Kritisch heißt es dagegen: „Gut gemeint, aber schlecht gemacht (...) Könnten böse Zungen jetzt hochrechnen und sagen, dass trifft auch auf die Politik von Frau Kraft zu.“ Oder: „Mehr Wählerstimmen gibt es damit mit Sicherheit auch nicht.“

Kommunikationsexperte Frank Marcinkowski von der Uni Münster sagt zu dem Video-Tagebuch: „Es soll Authentizität vermitteln, aber das Ganze ist natürlich dennoch inszeniert, denn sie entscheidet ja, wann sie die Kamera ein- und ausschaltet und was sie sagt.“ Der Wissenschaftler glaubt: „Es gereicht ihr nicht zum Vorteil.“ Denn: „Sie wirkt getrieben, erweckt den Eindruck, nicht genügend Zeit für eine gründliche Vorbereitung zu haben, sie spult routinehaft ihre Termine ab.“ Und: „Ich bezweifle, dass die Leute das hören wollen. Eindruck macht es, wenn Politiker kompetent, führungs- und durchsetzungsstark sind - nicht, wenn sie sagen: ich bin so wie du.“


In den Blogs benutzt die stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Umgangssprache, kein „Politikersprech“. Kostprobe: „Diese Woche ist ganz viel Bundespolitik, da muss ich mich noch einarbeiten.“ Man erfährt, dass ihr Dienstwagen ihr mobiles Büro ist, wo sie Sitzungen vorbereitet, Reden schreibt, Anfragen beantwortet. „Politikmachen heißt eben nicht in Talkshows sitzen. Sondern heißt hart arbeiten, in den Themen sein und sich 'ne Meinung bilden. Und das gehört zu meinem Job dazu.“ Sie versichert später: „Ich klage auch nicht, ich jammer' nicht. Ich bekomm' auch ganz viel Geld für den Job. (...) Es gibt keine schönere Tätigkeit, die ich mir vorstellen kann.“

Man erfährt allerdings auch allerlei Belangloses: „Hier draußen ist jetzt die schöne Terrasse, wir genießen noch mal den Blick.“ Oder hört Kraft quasi beim lauten Denken zu: „Rede mache ich fertig, während ich Handball gucke.“ Zur dpa-Anfrage nach ihrer Motivation für die Filmchen sagt die 54-Jährige: „Ich werde oft gefragt, wie ein typischer Arbeitstag bei mir aussieht. Durch das unmittelbare Format kann ich einen direkten Einblick in meinen Alltag geben, aber auch mal Sachen zeigen, die sonst eher selten zu sehen sind.“ In einem der Videos - alle sind aus der vergangenen Woche - kündigt Kraft an, die Serie fortzusetzen.

Warum gerade jetzt diese Offensive? Marcinkowski erläutert: „Jemand galt lange als ganz nah dran an den Menschen, dann wurde das plötzlich in Zweifel gezogen.“ Nun bemühe sich Kraft, „Nähe und Familiarität“ zu zeigen. Krafts Image als „Kümmerin“ hatte zuletzt gelitten, weil sie nach den massenhaften Übergriffen auf Frauen an Silvester tagelang geschwiegen hatte. Parteisprecher Christian Obrok betont zu den Blogs: „So etwas zu machen, hat Frau Kraft schon länger geplant. Für den Start jetzt gab es keinen konkreten Anlass.“

Kommunikationsexperte Christoph Bieber von der Uni Duisburg-Essen ist überrascht von der YouTube-Offensive. „Frau Kraft ist nicht gerade als massiv netzaffin einzustufen. Der Video-Blog ist sehr ausgefallen und interessant. Die Machart - das Hantieren mit einem Selfiestick - ist durchaus experimentell.“ Einen Zusammenhang mit der Landtagswahl im Frühjahr 2017 sieht er nicht, das sei noch zu weit entfernt. Bieber zufolge geht es Kraft nicht darum, Dynamik oder Handlungsstärke zu demonstrieren. Jenseits der großen öffentlichen Auftritte zeige sie einen „Zwischenbereich“ und bisher unbekannte Facetten. Sein Fazit: „Es ist nicht privat, aber es ist persönlich.“

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