Das zweite Parlament Strategische Mittel und Meinungsbildung: Zahl der Anhörungen im Parlament wächst

Sie sind nicht gewählt, aber ihr Einfluss auf die Landespolitik ist groß: Sachverständige nehmen im Landtag regelmäßig Stellung. Und die Zahl der Anhörungen wächst von Rekord zu Rekord.

Das zweite Parlament: Strategische Mittel und Meinungsbildung: Zahl der Anhörungen im Parlament wächst
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Düsseldorf. Es ist Mittwochmorgen, 14. März, 10 Uhr. Im Plenarsaal des Düsseldorfer Landtags trudeln die Mitglieder des Ausschusses für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz ein. Auf der Tagesordnung steht die Drucksache 17/806: Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Thema „Nordrhein-westfälische Schweinehaltung neu gestalten — Bäuerinnen und Bauern auf ihrem Weg zu einer artgerechten Tierhaltung unterstützen“. Auf den oberen Rängen verlieren sich drei Zuschauer, unten im Plenum sitzen elf Sachverständige, sortiert nach der Reihenfolge ihrer schriftlich eingereichten Stellungnahmen.

Nicht die einzige Expertenversammlung an diesem Tag. Im Raum E3—D01 äußern sich Sachverständige vor dem Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales zu Fragen der Langzeitarbeitslosigkeit. Der Ausschuss für Schule und Bildung hat im Anschluss an die Diskussion über die Schweinehaltung im Plenarsaal Fachleute zur Schulsozialarbeit zu Gast. Am nächsten Tag wird der Hauptausschuss Sachverständige zur politischen Bildung anhören. Auch der Freitag ist nicht anhörungsfrei: Im Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen geht es um den mietpreisgebundenen Wohnungsbau, der Ausschuss für Europa und Internationales hört sich Expertenmeinungen zu einer Reform der europäischen Entsenderichtlinie an.

Sachverständige sind im parlamentarischen Leben allgegenwärtig. Und ihre Mitwirkung beschränkt sich nicht allein auf den mündlichen Vortrag. Üblich sind vorgelagerte schriftliche Stellungnahmen, zu denen die Experten dann bei der Anhörung befragt werden können. Liegt das Protokoll der Anhörung vor, folgt eine weitere Ausschusssitzung mit der Auswertung des Gehörten. Und dann? Das hängt stark davon ab, von wem der entsprechende Antrag oder die Gesetzesinitiative ausgehen. Im Zweifel wird ein gehöriger Aufwand betrieben, um am Ende einer breit angelegten Diskussion und Informationsbeschaffung an der Mehrheit der Regierungsfraktionen zu scheitern.

Für die Schweinehaltungsdiskussion sind beispielsweise unter anderem der Agrarstatistiker und Autor Georg Keckl aus Hannover sowie Martin Hofstetter von Greenpeace aus Berlin angereist. Aber auch die Landwirtschaftsverbände sind vertreten, die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft, die Landwirtschaftskammer und die Interessengemeinschaft der Schweinehalter. Aber die geballte Fachkompetenz wird am Ende womöglich trotzdem nicht dazu führen, dass es im Landtag eine Mehrheit für die Forderungen der Grünen gibt. Also alles für die Katz?

Die Landespolitiker sehen das nicht so — im Gegenteil. Die Zahl der Anhörungen wächst von Wahlperiode zu Wahlperiode. Von 1995 bis 2000 gab es 122 Anhörungen, in der Wahlperiode danach 157. In den Jahren 2005 bis 2010 verdoppelte sich die Zahl bereits auf 318. In der vergangenen Regierungszeit von Rot-Grün gab es noch einmal einen knapp 50-prozentigen Aufschlag: 447 Anhörungen und Sachverständigengespräche wurden in der Landtagsverwaltung gezählt.

Das mag wahlweise als Indiz für zunehmend komplexere Sachverhalte dienen, mit denen sich die Parlamentarier befassen müssen — oder als Ausdruck wachsender politischer Unsicherheit, die sich nach Rückversicherung sehnt. Für den CDU-Fraktionsvorsitzenden Bodo Löttgen steht jedenfalls fest: „Bei der Bandbreite und Komplexität der Themen, mit denen sich Politik heute auseinanderzusetzen hat, ist die Sachverständigenanhörung eines der wichtigsten parlamentarischen Mittel, um Meinungsvielfalt vom Kleingärtnerverein bis zur Großindustrie in politische Entscheidungen mit einzubeziehen und zu dokumentieren, um auch die Änderungen im Meinungsbild über Jahre und Jahrzehnte nachzuverfolgen.“

Zumindest in dieser Einschätzung weiß er sich einig mit der oppositionellen SPD: „Anhörungen sind ein erprobtes Instrument, denn durch das Wissen der Sachverständigen, das sie uns schriftlich und auch mündlich übermitteln, können die Abgeordneten in ihrem Meinungsbildungsprozess zwischen unterschiedlichen Auffassungen abwägen“, sagt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Nadja Lüders. „Das trägt entscheidend zur Meinungsbildung bei.“

Die Wertschätzung wird so sachlich formuliert wie die Anhörungen in der Regel auch verlaufen. Während sich sonst in den Ausschusssitzungen oft das parlamentarische Ritual des politischen Schlagabtauschs mit polemischer Garnierung fortsetzt, ist der Tonfall während der Anhörungen spürbar anders. Keine Häme, keine Zwischenrufe. Fast scheint es, als bestehe neben dem ersten Parlament ein zweites, in dem Probleme endlich einmal sachbezogener, tiefergehender und aus den unterschiedlichsten Perspektiven erörtert werden können. Die entscheidende Frage ist nur jedes Mal, wie sich die gewonnenen Erkenntnisse dann noch im politischen Strategiebetrieb behaupten können.

Die Schwelle für eine Anhörung ist jedenfalls niedrig. Jede Fraktion kann sie beantragen. Im Ausschuss reicht die Zustimmung eines Viertels der Mitglieder aus. „Insofern sind Anhörungen ein häufig von Oppositionsparteien genutztes Instrument zur Überprüfung des beabsichtigten Regierungshandels“, sagt Löttgen. Hier kann die Opposition Flagge zeigen und von den eingeladenen Experten bestätigt bekommen, was sie anders oder im Zweifel besser machen würde.

Sachverständige sind also bei aller Expertise auch ein gezielt eingesetztes, politisches Instrument. „Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Anhörungen auch der politischen Selbstvergewisserung dienen und Munition für die eigene Argumentation oder gegen den politischen Konkurrenten liefern sollen“, räumt Grünen-Fraktionschefin Monika Düker ein. „Uns ist es dabei ein großes Anliegen, dass auch Minderheitenpositionen oder Gruppen ohne große Lobby im Rücken Gehör im Landtag finden.“ Aber da alle Fraktionen Vorschlagsrechte für Sachverständige hätten, „wird sichergestellt, dass der zu beratende Sachverhalt aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Interessengruppen bewertet wird“.

Dass Anhörungen für die jeweilige Opposition ein strategisches Mittel der politischen Auseinandersetzung sein können, bestätigt auch Henning Höne, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Landtagsfraktion. „Allerdings haben auch solche Anhörungen einen Mehrwert für die parlamentarische Arbeit, da komplexe Sachverhalte vertieft diskutiert oder neue Fragen aufgeworfen werden.“ Im Klartext: Von Sachverständigen lassen sich Politiker womöglich leichter auch mal Dinge sagen, die der Position des politischen Gegners entsprechen. Löttgen spricht davon, „die eigene Meinung auf Akzeptanz hin zu überprüfen“. Allerdings, schränkt Höne ein, „fördert nicht jede Anhörung völlig neue Einschätzungen zu Tage“.

Ohnehin hat die Geschäftsordnung des Landtags vorgesorgt, damit es im Rahmen einer Anhörung nicht zu Unwuchten kommt. In Paragraf 57 heißt es: „Beschließt der Ausschuss eine Begrenzung der Anzahl der anzuhörenden Personen, kann von der Minderheit nur der ihrem Stärkeverhältnis im Ausschuss entsprechende Anteil an der Gesamtzahl der anzuhörenden Auskunftspersonen benannt werden.“

In dieser Woche tagt wieder das erste Parlament: Morgen und am Donnerstag stehen die 22. und die 23. Plenarsitzung an. Dann kommt die Osterpause. Im April geht der parlamentarische Betrieb weiter. Am 19. April kommt der Familienausschuss zusammen. Auf der Tagesordnung: eine Sachverständigenanhörung.

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