NRW Skandal um Menschenversuche

Sylvia Wagner hat bei Recherchen für ihre Doktorarbeit zahllose Medikamenten-Tests an Kindern und Säuglingen aufgedeckt.

NRW: Skandal um Menschenversuche
Foto: Michael Passon

Krefeld. Große Dinge, und eben auch schreckliche, beginnen manchmal eher unauffällig. Es waren Menschen aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis, die Sylvia Wagner davon erzählten, dass sie früher in Erziehungsheimen Medikamente bekommen haben, ohne krank zu sein. Was das denn wohl habe sein können, wollte man von der Pharmazeutin wissen. Ein interessantes Thema für eine Doktorarbeit, dachte Frau Wagner. Heute möchte die ganze Nation von der Krefelderin wissen, was da nach dem Krieg bis Mitte der Siebziger in Deutschland passiert ist. Die 52-Jährige ist auf, Stand heute, bundesweit mehr als 50 Medikamenten-Tests an Kindern und Säuglingen gestoßen. Und kann es selbst noch nicht fassen.

Frau Wagner, über wie viele Kinder reden wir?

Sylvia Wagner: Jetzt schon über Tausende und ich fürchte, dass ich erst die Spitze des Eisbergs freigelegt habe. Täglich stoße ich auf neue Untersuchungen, durchforste die Archive von Pharma-Firmen und Fachzeitschriften zwischen 1950 und 1975. Dazu rufen mich immer mehr Betroffene an. Es ist zudem ja nicht so, als wären diese Menschenversuche, und nichts anderes ist es, nicht dokumentiert gewesen. Teilweise seit 60 Jahren. Da muss dann eine Pharmazeutin bei der Recherche für ihre Doktorarbeit drauf stoßen. Das macht mich betroffen und wütend.

Über den Test von Medikamenten und Impfstoffen an Kindern haben damals Fachzeitschriften berichtet? Welche?

Wagner: Die Deutsche Medizinische Wochenschrift zum Beispiel, die gibt es meines Wissens nach heute noch. Es ist mir unbegreiflich. Im Grunde reden wir über zwei Skandale. Erstens, dass überhaupt solche Studien an unschuldigen Kindern und Jugendlichen, wovon sehr viele psychische Störungen bis ins Erwachsenenleben zurückbehalten haben, durchgeführt wurden. Ohne Unrechtsbewusstsein. Dann, dass es offenbar keinen Protest bei der Leserschaft gegeben hat. Diese Menschen haben schlicht niemanden interessiert.

Wer waren die Opfer?

Wagner: Kinder in Kinder- und Jugendpsychiatrien, in Behinderten-Einrichtungen, in so genannten Fürsorge-Erziehungsheimen, in Waisenhäusern und Säuglingsheimen. Kinder, für die sich ohnehin wenige interessiert haben. Teilweise bis heute nicht. Betroffene haben in der Vergangenheit immer wieder versucht, auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Zuletzt wurde am Rande des Runden Tisches Heimerziehung, der 2009 vom Bund initiiert wurde, festgestellt, dass es keine Anhaltspunkte für Tests an Kindern gebe. Unfassbar.

Über welche Tests reden wir konkret?

Wagner: Quer durch die Bank. Besonders perfide waren die vielen Tests in Säuglingsheimen. Dort landeten damals die unehelichen Kinder, die den ,sexuell verwahrlosten’ Müttern von Jugendämtern und Kirchen weggenommen und oft zu Hunderten untergebracht wurden. Ein riesiges Testfeld, das sich nicht wehren kann. Lieblose Massenabfertigung ohne Zugriffsmöglichkeit für die Eltern.

Ein Beispiel?

Wagner: Viele. Nehmen wir das damalige Säuglingsheim in der Petersstraße in Krefeld, seinerzeit betrieben vom Krefelder Frauenverein. Dort wurde 1960 an mindestens 40 Kindern im Alter von vier bis 18 Monaten ein Impfstoff gegen Kinderlähmung ausprobiert. Die Säuglingsheime eigneten sich besonders gut, weil die Säuglinge durch die fehlende Muttermilch irgendwann frei von Antikörpern sind. Dafür wurden sie zusätzlich in einer Art Quarantäne gehalten. Säuglinge. In Süchteln wurden unter offensichtlicher Beteiligung der Pharmafirma Janssen Psychopharmaka ausprobiert.

Wer sind die Täter?

Wagner: Natürlich die Pharmakonzerne, die solche Testreihen in Auftrag geben. Ich bin auf sehr viele gestoßen, nicht alle helfen so intensiv bei der Aufklärung wie die Firma Merck. Die seinerzeit sehr aktiven Behringwerke zum Beispiel sind längst zerschlagen. Und bei den Kirchen heißt es gern, das Archiv des Säuglingsheims sei einem Brand oder Wasserschaden zum Opfer gefallen. Dann die beteiligten Ärzte, von denen eine ganze Reihe eine Nazi-Vergangenheit haben. Und alle, die weggeschaut haben. Einschließlich mancher Behörde.

Behörden?

Wagner: In Neu-Düsseltal zum Beispiel durfte der Nazi-Arzt Friedrich Panse 1966 mit Billigung des Landesjugendamtes NRW ein Neuroleptikum an Heimkindern erforschen. 1957 gab der damalige Präsident des Gesundheitsamtes Prof. Franz Redeker eine Studie in einem Säuglingsheim in Auftrag, bei der die Babys eine Knochenmarkpunktion erleiden mussten. Um die Nebenwirkungen des Pockenimpfstoffs zu bestimmen. Und wissen Sie was? Der Nazi-Arzt Hans Heinze hat die Kinder-Euthanasie mit aufgebaut. Nach dem Krieg war er Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wunstdorf. Es ist schlimm, worauf ich stoße, aber ich mache weiter.

Sind die Täter aus Ihrer Sicht heute rechtlich angreifbar?

Wagner: Für mich waren das Menschenrechtsverletzungen. Und die verjähren nicht.

Welche Rolle spielt Ihre Doktorarbeit dabei?

Wagner: Ich hoffe, dass sie eine gute Grundlage für weitere Forschungen auf diesem Feld wird. Ich selbst werde jedenfalls dranbleiben.

Wären solche Tests heute auch möglich?

Wagner: Ich glaube nicht. Medikamententests an Menschen oder eben Kindern müssen von der Ethikkommission genehmigt werden und die Einwilligung der Eltern muss vorhanden sein. Früher wurde wohl einfach nicht gefragt.

Was erwarten Sie jetzt?

Wagner: Eine lückenlose Aufklärung durch Behörden, Politik und Pharmaindustrie. Vor allem kann ich mir gut vorstellen, dass viele Betroffene klagen werden.

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