Interview NRW-Minister Laumann: „Die Pflege braucht eine Interessenvertretung“

Karl-Josef Laumann, NRW-Minister für Gesundheit, Arbeit und Soziales über den Ärztemangel auf dem Land, Einzelzimmer in Pflegeheimen und späte Fragen von Schulz.

Interview: NRW-Minister Laumann: „Die Pflege braucht eine Interessenvertretung“
Foto: Judith Michaelis

Herr Laumann, Politik lebt von Kompromissen — und nicht alle können erfüllt werden. Was steht auf Ihrem Wunschzettel ganz oben?

Karl-Josef Laumann: In den kommenden fünf Jahren wird die Frage der Gesundheitspolitik sehr wichtig sein. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits laufen wir Gefahr, die ärztliche Versorgung auf dem Land nicht mehr sicherstellen zu können. Wir bilden in NRW jedes Jahr etwa 2000 Ärzte aus, von denen jedes Jahr ganze zehn Prozent, also rund 200, am Ende noch Allgemeinmediziner werden. Allein im vergangenen Jahr sind aber fast 460 Hausärzte in Rente gegangen. Diese Entwicklung haben wir seit Jahren, darauf ist so gut wie gar nicht reagiert worden — weder von der Politik noch von den Medizinischen Fakultäten. Das ist vor allem politisch zu verantworten.

Wo sehen Sie denn die Ursachen für den Hausarztmangel auf dem Land?

Laumann: Es gibt genügend Menschen, die Landarzt werden wollen, wir lassen sie oftmals nur nicht studieren. Wir haben auf einen Studienplatz etwa zehn Bewerbungen und könnten anders auswählen, was die Fakultäten bisher aber nicht tun. Das ist ein bundesweites Problem. Es ist eine große Baustelle, an den Fakultäten der Allgemeinmedizin einen höheren Stellenwert zu geben. Deshalb müssen wir erreichen, dass alle medizinischen Fakultäten eine Professur für Allgemeinmedizin haben. Die Allgemeinmedizin ist an vielen NRW-Hochschulen bisher nicht selten das fünfte Rad am Wagen gewesen.

Wie wollen Sie mehr Hausärzte aufs Land holen?

Laumann: Wir haben uns im Koalitionsvertrag für die Landarzt-Quote entschieden. Diese gibt vor, dass wir bis zu zehn Prozent der Studienplätze an Personen vergeben, die bereit sind, nach ihrer Facharztausbildung bis zu zehn Jahre in unterversorgten Regionen als Hausarzt zu arbeiten. In anderen Bundesländern wird das auch diskutiert, in Bayern hat es die Regierung bereits beschlossen. Ich will mich hier auch mit den Ländern abstimmen, die diese Quote ebenfalls befürworten, um mögliche verfassungsrechtliche Hürden zu beseitigen.

Und wenn die Absolventen später wieder abspringen?

Laumann: Dann gibt es spürbare Sanktionen. Es handelt sich dabei um einen Vertrag. Kritiker äußern oft Bedenken, dass die Absolventen die Vereinbarungen nicht einhalten werden. Ich teile dieses Grundmisstrauen gegenüber den Bürgern unseres Landes ausdrücklich nicht. Wir sollten den Studierenden erstmal soweit vertrauen, dass sie uns nicht täuschen wollen.

Das Auswahlverfahren bei der Studienplatzvergabe ist also das Kernproblem?

Laumann: Zumindest ein sehr gewichtiges. Wenn ich zu diesem Thema irgendwo einen Vortrag halte, erreichen mich regelmäßig Briefe von jungen Menschen: Die sagen mir dann sinngemäß: ,Herr Laumann, ich habe zwar ein ganz gutes Abitur, aber leider keine 1,0. Geben Sie mir doch einen Studienplatz!’ So, wie wir die Studierenden zurzeit aussuchen, bekommen wir hauptsächlich die Leute, die an großen Krankenhäusern beispielsweise in der Forschung arbeiten möchten. Und wir möchten eine weitere Karte ziehen und in Bielefeld eine neue Medizinische Fakultät mit dem Schwerpunkt Allgemeinmedizin aufbauen. Bisher befinden sich in NRW 70 Prozent der Ausbildungsplätze für Ärzte im Rheinland. Aus diesem Grund ist Ostwestfalen-Lippe der richtige Ort.

Wie lange wird es dauern, bis Ihre Maßnahmen gegen den Hausarztmangel auf dem Land greifen?

Laumann: Alles, was wir jetzt tun, wird lange brauchen, bis es richtig wirkt — das ist mir bewusst. Wenn heute jemand anfängt, Medizin zu studieren, kann er in frühestens zwölf Jahren ein niedergelassener Arzt sein. So lange dauert die komplette Ausbildung im Schnitt. In diesen Jahren werden noch ganz viele Ärzte in Rente gehen und zu wenige nachkommen.

Sie kritisieren, dass es bislang nur eine sehr unzureichende Krankenhaus-Planung in NRW gab.

Laumann: Wir haben in NRW keine ausgewiesenen Kliniken für seltene Erkrankungen. Ein Beispiel: Knapp 8000 Menschen sind bundesweit an Mukoviszidose erkrankt, 2000 von ihnen leben vermutlich in Nordrhein-Westfalen. Es gibt nur noch aber kein ausgewiesenes Krankenhaus in NRW, das sich speziell um diese Patienten kümmert und auch dafür ausgestattet ist. Die Betroffenen sind durchaus bereit, weite Anfahrten für die Behandlung auf sich zu nehmen. Das muss aber alles vernünftig geplant sein. Es bringt den Menschen nichts, wenn ich ein Krankenhaus für eine seltene Erkrankung habe und gegenüber ein ähnlich ausgerichtetes Krankenhaus eröffnet wird, weil es vielleicht ein lukratives Geschäft ist.

Alle Bundesländer planen ihre Krankenhäuser noch mit Betten. Ist das richtig?

Laumann: Nein, davon müssen wir wegkommen. Ich habe in den vergangenen Jahren viele Krankenhäuser besucht, wobei es für mich immer auch eine wesentliche Frage gab: Wie viele Betten hat die Klinik laut Plan und wie viele hat sie tatsächlich aufgestellt? Dabei ist mir kaum ein Krankenhaus untergekommen, das alle Betten aufgestellt hat, die im Plan stehen. Bei den Verhandlungen werden die Betten dann oftmals verteidigt, als ob es um die Existenz des Krankenhauses ginge. Ich strebe eine Krankenhaus-Planung an, die sich stärker an der Strukturqualität und der damit verbundenen technischen und personellen Ausstattung der Krankenhäuser sowie an Menge orientiert.

Kommen wir zum Thema Pflege: Bereits 2003 wurde ja festgelegt, dass bis 2018 80 Prozent der Schlafräume in Pflegeeinrichtungen mit Einzelzimmern ausgestattet sein müssen.

Laumann: Das ist korrekt, die Übergangszeit betrug 15 Jahre. Das ist eine lange Zeit und niemand kann mir erzählen, das sei von heute auf morgen gekommen.

Wie reagieren Sie auf die Drohung der Heimbetreiber, dann Plätze abzubauen mit dem Argument, Sie müssten aus Doppel- dann Einzelzimmer machen?

Laumann: Dann brauchen wir neue Heime. Da bin ich klar aufgestellt und lasse mich auch nicht erpressen. Wie soll ich denn den 80 Prozent der Heime, die schon heute entsprechend der Vorgabe umgebaut haben, erklären, dass sich die restlichen 20 Prozent nicht mehr daran halten müssen? Politik hat auch etwas mit Verlässlichkeit und Vertrauen zu tun. Im Übrigen: Die Kritiker dieser Vorgabe können sich ja mal fragen, ob sie in einem Zwei-Bett-Zimmer liegen möchten, wenn sie pflegebedürftig geworden sind.

Welche Baustellen gibt es darüber hinaus in der Pflege?

Laumann: Wir müssen durch das Pflegeberufegesetz beispielsweise die Grundlagen der Kranken- und die Altenpflegeschulen neu organisieren. Bei der Gelegenheit müssen wir die Altenpflege auch genauso gut finanzieren wie die Krankenpflege, da gibt es noch gewaltige Unterschiede. In NRW hat eine Krankenpflegeschule pro Schüler 540 Euro zur Verfügung und eine Altenpflegeschule nur 218 Euro. Außerdem benötigt die Pflege eine Interessensvertretung in Nordrhein-Westfalen. Eine Umfrage unter den Pflegekräftenzu diesem Thema ist im Koalitionsvertrag ja festgeschrieben. Die Pflegekräfte sollen entscheiden, ob und welche Interessenvertretung sie wollen.

Kommen wir auf Ihre Position als Arbeitsminister zu sprechen: Martin Schulz hat im Wahlkampf viele Forderungen aufgestellt, die Sie 2006 schon auf den Tisch gebracht haben. Ihre Wortwahl damals: „Das Prinzip, dass jemand, der lange Beiträge gezahlt hat, auch längere Zeit das Arbeitslosengeld I bezieht als ein junger Säufer, der nichts geleistet hat, ist richtig und sozial.“

Laumann: Stimmt, diese Themen sind eigentlich schon längst abgehakt. Wir hatten schon nach 2006 in der Regierung Rüttgers durchgesetzt, dass ältere Menschen länger Arbeitslosengeld erhalten als jüngere. Außerdem haben wir für ältere Menschen in Hartz IV in dieser Zeit sehr hohe Schonvermögen eingeführt. Wenn die Betroffenen behaupten, dass ihnen alles weggenommen wird, muss ich widersprechen. Es wird ein beträchtlicher Barbetrag geschützt — wie auch die Rückstellungen für die Lebensversicherung und für die Rente. Schulz kommt mit diesen Dingen einfach zu spät. Das merken die Menschen auch.

Welche Konzepte haben Sie, um die Langzeitarbeitslosigkeit in NRW zu bekämpfen?

Laumann: Wir haben in unserem Land rund 300 000 Langzeitarbeitslose. Von denen ist circa ein Drittel noch relativ arbeitsmarktnah, ein Drittel schon ziemlich weit weg und ein Drittel sehr arbeitsmarktfern. Die Wohlfahrtsverbände vertreten die Idee einer geschützten Beschäftigung, die komplett vom Arbeitsmarkt abgekapselt ist. Da widerspreche ich klar. Diese Menschen brauchen eine feste Tagesstruktur. Das ist aber für mich keine Frage der Arbeitsmarktpolitik. In der Arbeitsmarktpolitik dürfen wir kein künstliches Konstrukt außerhalb der Arbeitswelt schaffen. Die Menschen müssen mit Arbeitgebern und anderen Arbeitnehmern zusammenkommen — es bringt nichts, wenn sie nur unter sich bleiben.

Was wäre die Alternative?

Laumann: Wünschenwert ist etwa, wenn Unternehmer Langzeitarbeitslose im Rahmen der Modellprojekte in geeigneter Weise in den Arbeitsalltag integrieren. Es ist wichtig, dass die Betroffenen aus dem Langzeitarbeitslosen-Milieu herauskommen. Mit dem Modell der Stadt Dortmund ist das meines Erachtens möglich. So könnten etwa Langzeitarbeitslose Hausmeistern in öffentlichen Gebäuden helfen. Im Land werden immerhin noch 37 000 Langzeitarbeitslose in Maßnahmen beschäftigt oder gefördert. Es ist nicht so, dass dort nichts passiert.

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