Missbrauchsskandal: Die Alpträume kehren zurück

Immer mehr Opfer melden sich. Unter den Beschuldigten sind mittlerweile auch zwei Frauen.

Berlin. Langsam zündet Christian Herwartz eine Kerze nach der anderen an. "Jede steht für den Mut eines Menschen, der gesprochen hat", sagt der Pater. Von dem stillen Abendgebet der Jesuiten in einer Berliner Kirche geht vor allem diese Botschaft aus: Jeder, der missbraucht wurde, soll sich melden, soll reden. "Wir wollen die Angst vor der Wahrheit verlieren." Nur wenige Stunden später erscheint diese Wahrheit in grellem Licht: Von bisher knapp 120 Opfern spricht Anwältin Ursula Raue, die als Beauftragte des Ordens ihren Zwischenbericht zum sexuellen Missbrauch von Schülern vorlegt. Und sie sagt, was viele vermuteten: "Das hat eine Dimension angenommen, die bisher nicht zu ahnen war."

Wochenlang hat die kleine, blonde Frau die Archive der deutschen Jesuiten in München durchforstet und Personalakten von Patres und anderen Lehrern der Gymnasien in Berlin, Bonn und St. Blasien im Schwarzwald sowie anderen Einrichtungen ausgewertet. Außerdem wandten sich immer mehr Opfer an sie. "Bei mir sind unendlich viele Anrufe eingegangen", sagt Raue.

Nicht nur Schüler aus den 70er und 80er Jahren hätten sich gemeldet. "Anrufer sagten, das war in den 50er und 60er Jahren das gleiche, und da war es noch schlimmer." Männer hätten sich ihr anvertraut, die weder mit der eigenen Frau noch mit Freunden je über die demütigenden Erfahrungen ihrer Schulzeit gesprochen hätten. Andere schilderten Alpträume. "Einige sagten, sie seien selbst nach einigen Tagen der Konfrontation mit der Erinnerung nur unter Zittern imstande gewesen, mich anzurufen."

Mehr als hundert Journalisten, Fotografen und Kameraleute drängen sich vor Raue, die über den körperlichen und seelischen Missbrauch von Jungen und auch Mädchen berichtet. "Es ist aus den Akten erkennbar, um was es sich handelt", sagt Raue, "aber es folgten keine Konsequenzen für die Betroffenen." Inzwischen kenne sie die Namen von zwölf Patres und Lehrern, denen Opfer sexuellen Missbrauch vorwerfen. Auch zwei Frauen werden mittlerweile beschuldigt, sich an Schülern vergangen zu haben. Immer wieder seien die Täter versetzt worden. Nur entlassen oder angezeigt wurde niemand.

Betroffen zeigt sich Raue, die einst Präsidentin der Opferschutzorganisation "Innocence in Danger" war, von der Ignoranz der Jesuiten gegenüber den Opfern. An "keiner Stelle" sei in den Personalakten bei dem Orden die Frage aufgetaucht, wie es denn wohl einem der Kinder oder Jugendlichen gegangen sei. Teilweise seien sie über Jahre von einzelnen Patres angefasst, zur Selbstbefriedigung gezwungen oder systematisch auf die nackte Haut geschlagen worden. Die Gespräche mit manchen Opfern zeigten: "Es gibt Verletzungen und Wunden, die heilen offenbar nicht. Diese Wunden gehören dazu."

Raue kündigt an, dass nun eine große Arbeitsgruppe eingerichtet werde, um den Skandal weiter zu untersuchen.

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