Jemen: „Größte humanitäre Katastrophe weltweit“

Düsseldorf. Wer auch immer sich zu dem inzwischen mehr als vier Jahre tobenden Stellvertreterkrieg im Jemen und seinen Folgen für die Bevölkerung äußert, tut das mit dramatischen Worten.

Sanaa, Hauptstadt des Jemen, am vergangenen Sonntag: Ein vertriebenes Kind steht vor seiner Bleibe in einem Slum. Viele vertriebene Familien aus der jemenitischenHafenstadt Hudaida, die keine Chance hatten, in die Flüchtlingslager in Sanaa zu gelangen, bleiben in Elendsviertel hängen. Foto: dpa

Sanaa, Hauptstadt des Jemen, am vergangenen Sonntag: Ein vertriebenes Kind steht vor seiner Bleibe in einem Slum. Viele vertriebene Familien aus der jemenitischenHafenstadt Hudaida, die keine Chance hatten, in die Flüchtlingslager in Sanaa zu gelangen, bleiben in Elendsviertel hängen. Foto: dpa

Henrietta Fore, Chefin des UN-Kinderhilfswerks Unicef, beklagt die mindestens 2200 Kinder, die in dem Konflikt bereits getötet wurden. „Es gibt keine Rechtfertigung für dieses Blutbad.“ Deutschlands Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) spricht in einem „Welt“-Interview davon, im Jemen kämpften „über zehn Millionen Kriegsflüchtlinge ums nackte Überleben“. Und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR? Es nennt die Lage schlicht „die größte humanitäre Katastrophe weltweit“.

Trotzdem dringt das Drama noch nicht wirklich durch. Christian Langehenke hat dafür Erklärungen: „Der Jemen ist weit weg. Und er erzeugt keine Fluchtbewegungen nach Europa, weil es sehr schwierig ist, den Jemen zu verlassen. Die Grenze zu Saudi Arabien ist dicht, es führt praktisch kein Weg heraus.“

Langehenke ist seit gut anderthalb Jahren für den UNHCR in dem Bürgerkriegsland im Einsatz. Am Tag des Telefonats ist es ruhig im Hintergrund. An anderen Tagen seien die Bombenangriffe der Saudis auf die Hauptstadt Sanaa gut zu hören. Alle Botschaften sind längst geschlossen. „Das ist definitiv ein Hochrisikoland“, beschreibt Langehenke die Situation der Helfer. „Wir verlassen uns darauf, dass alle Konfliktparteien uns als neutraler Organisation Schutz gewähren.“

230 Kilometer südwestlich der Hauptstadt ist die Lage noch weit dramatischer. Über die Hafenstadt Hudaida gelangen nicht nur 80 Prozent der Hilfsgüter in das Bürgerkriegsland. Sie ist auch Umschlagplatz für die meisten kommerziellen Güter. „Wenn der Hafen nicht funktioniert, ist das eine vollkommene Katastrophe“, sagt Langehenke. Aber um das existenzielle Nadelöhr wird seit Wochen erbittert gekämpft.

Die von Saudi-Arabien in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) angeführte Militärkoalition will an diesem wichtigen Knotenpunkt die Vorherrschaft der vom Iran unterstützten schiitischen Huthi-Rebellen brechen. Die aus dem Nordjemen stammenden Huthis hatten die Hafenstadt 2013 eingenommen, waren ein Jahr später auch in der Hauptstadt einmarschiert und hatten Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi samt Regierung aus dem Amt vertrieben. Seit 2015 läuft die Militäroperation der Saudis gegen die Rebellen und für die Wiedereinsetzung der alten Regierung. Hinter der Machtfrage im Jemen steht also auch der große arabische Konflikt zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran.

Unter die Räder kommt dabei die Bevölkerung. Zwar gab es Anfang des Monats Meldungen über eine Aussetzung der Offensive auf Hudaida. Die Emirate erklärten, sie wollten dem UN-Sondergesandten Martin Griffiths die Möglichkeit geben, die Huthis zu einem bedingungslosen Abzug aus der Stadt zu bewegen. Der Sondergesandte sagte, er hoffe auf eine baldige Wiederaufnahme von Friedensgesprächen und habe schon „ergebnisreiche Gespräche“ mit dem Rebellenanführer geführt. Aber die Lage für die Menschen ist unverändert katastrophal.

Der UNHCR spricht derzeit von zwei Millionen Binnenvertriebenen. Aber mehr als 22 Millionen Menschen, also gut drei Viertel der Bevölkerung, seien auf Unterstützung angewiesen. „Das betrifft alle Grundbedürfnisse“, sagt Langehenke — von der Ernährung und Unterkunft über die medizinische Versorgung bis zur Bildung. Das schwer beschädigte Wasser- und Abwassersystem erhöht das Risiko einer Cholera-Epidemie, 2200 Menschen sind schon daran gestorben. Zusätzlich ist der Jemen bereits seit längerer Zeit Zufluchtsort für rund 280 000 Flüchtlinge vom Horn von Afrika — vornehmlich aus Eritrea, Somalia und Äthiopien. Um sie kümmert sich praktisch ausschließlich der UNHCR mit seinen 200 Mitarbeitern vor Ort. Amnesty International erhebt Vorwürfe gegen die Emirate

„Es gibt einen großen Finanzbedarf“, sagt Langehenke. Zwar stehen seitens der internationalen Staatengemeinschaft rund 1,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung, aber nötig wäre das Doppelte. Entwicklungshilfeminister Müller ist überzeugt, dass der Jemen und andere Flüchtlingskrisen wie in Bangladesch Probleme seien, „die Europa erschüttern werden, wenn wir nicht reagieren“. Vorerst aber zeigt sich nur Amnesty International erschüttert. Mitte dieses Monats erhob die Menschenrechtsorganisation schwere Vorwürfe gegen die Vereinigten Arabischen Emirate. In inoffiziellen Haftanstalten der Emirate im Jemen habe es „ungeheuerliche“ Menschenrechtsverstöße gegeben. Häftlinge seien verschleppt und in den Gefängnissen gefoltert worden. Diese Verstöße müssten als Kriegsverbrechen geahndet werden.

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