Warum ein Wuppertaler Unternehmer der CDU den Rücken kehrt

Anruf aus Berlin: Jörg Mittelsten Scheid erläuterte in einem Vieraugengespräch mit Kanzlerin Angela Merkel seine Beweggründe.

Warum ein Wuppertaler Unternehmer der CDU den Rücken kehrt
Foto: Andreas Fischer

Wuppertal. Jörg Mittelsten Scheid ist ein Ehrenmann. Bald 80 Jahre alt, ist der ehemalige persönlich haftende Gesellschafter von Vorwerk & Co. immer noch ein wichtiger Gesprächspartner und eine Leitfigur für Unternehmer, die unternehmen nicht allein auf Geldverdienen reduzieren. Menschen wie Mittelsten Scheid fühlen sich verantwortlich. Sie teilen, sie teilen mit. Und es muss schon einiges geschehen, bis die Loyalität solcher Menschen ein Ende findet. Die CDU hat das geschafft. Jörg Mittelsten Scheid ist ausgetreten. Im Herbst 2015 verließ er die organisierte christdemokratische Gemeinschaft. Die Partei von Angela Merkel ist nicht mehr seine Partei.

Peter Hintze ist Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Seinen Wahlkreis hat der mit Merkel vertraute Politiker in Wuppertal. Dort kreuzen sich seine Wege oft mit denen Mittelsten Scheids. Auch für den Politiker ist der Unternehmer ein wichtiger Seismograph. Wer die Stimmungen in der Welt der Wirtschaft auffangen will, braucht solche Kontakte. Und die Welt der Wirtschaft ist für die CDU seit jeher von großer Bedeutung.

Das mag erklären, dass vor nicht allzu langer Zeit bei Jörg Mittelsten Scheid das Telefon läutete. Am anderen Ende der Leitung war die Bundeskanzlerin. Angela Merkel lud den Wuppertaler zu einem Vieraugengespräch nach Berlin ein. Am Telefon, meinte Mittelsten Scheid, lasse sich seine Entscheidung gegen die CDU nur unzulänglich erörtern. „Ein bisschen aufgeregt war ich schon“, sagte er nachher.

Dabei ist Jörg Mittelsten Scheid nicht irgendein Unternehmer. Seinen Vorfahren verdankt die Welt einen Staubsauger, der längst Legende geworden ist, und die Perfektionierung des Direktvertriebes. Er selbst hat das Familienunternehmen weiterentwickelt. Vorwerk ist heute fast auf der ganzen Welt zu Hause.

Ebenso weltgewandt ist der heutige Ehrenvorsitzende des Beirates. Mittelsten Scheid hat in Pakistan und Indien gelebt, er leitete in Afghanistan fünf Jahre ein Tochterunternehmen Vorwerks, er ist Asien-Experte und schrieb zuletzt über die Entwicklung Pakistans ein vielbeachtetes Buch. Und nun war er im Kanzleramt, um Angela Merkel sein Fremdeln mit der Christdemokratie unter ihrer Führung zu begründen.

„Ich habe ihr gesagt, dass die CDU für Chancengleichheit, Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit stand, als ich in die Partei eingetreten bin. Leistungsgerechtigkeit gibt es nicht mehr, und damit fühle ich mich nicht wohl“, sagt Mittelsten Scheid.

Die CDU hat sich verändert, seit sie nicht mehr von Helmut Kohl angeführt wird. Dem Saumagen-Gourmet aus Oggersheim ist vermeintlich eine mecklenburgische Machtmaschine gefolgt. Die CDU ist Merkel, und Merkel ist die CDU. Koch, Wulff, Merz heißen die Skalps an der Hüfte der Kanzlerin. Was sie sagt, ist Gesetz. Widerstand ist zwecklos. Aber damit scheint Schluss zu sein. Angela Merkel weht der Wind ins Gesicht. Ihr läuft das Volk davon. Von jenseits der 40 Prozent potenzieller Wähler sind 36 Prozent geblieben, und die Bundeskanzlerin ist schon lange nicht mehr die beliebteste Politikerin Deutschlands.

Auch deshalb kann es hilfreich sein, sich mit einem Mann wie Jörg Mittelsten Scheid zu unterhalten. Natürlich ging es dabei auch um Flüchtlinge. „Das Selfie-Foto mit Flüchtlingen hat wie eine Einladung gewirkt“, sagt der Unternehmer. Die Syrer und Iraker seien dabei weniger das Problem — auch nicht der fundamentalistische Islam, vor dem die Asylsuchenden ja gerade geflohen sind. Sorge machen ihm jahrhundertealte kulturelle Unterschiede, zum Beispiel die beherrschende Stellung des Vaters. „Haben wir nicht auch in Deutschland erlebt, dass junge Frauen von Vater und Bruder ermordet wurden, weil sie einen anderen Mann heiraten wollten?“ Hinzu komme die Stellung der Frau und ein für uns fremder Ehrbegriff, der leicht zu Gewalt führen kann. Außerdem glaubt er, dass ein gleichermaßen steigendes Ausmaß der Flüchtlinge in den nächsten Jahren nicht mehr zu bewältigen ist.

Auch in anderen Fragen ließ sich die Kanzlerin vom Besuch aus Wuppertal in die Karten schauen. Die Energiewende war demnach keine einsame Entscheidung Merkels, sondern Ausdruck der Mehrheit im Parteivorstand. Die Mütterrente sei seit zehn Jahren in der Partei gefordert, aber an die Bedingung geknüpft worden, dass die Wirtschaft stabil sein müsse. Dafür habe die CDU der SPD bei der Rente mit 63 entgegenkommen müssen, sonst hätte die bei der Mütterrente nicht mitgemacht. Politik ist Verhandlungssache. Mittelsten Scheid hält beide Entscheidungen für falsch.

Anderes läuft auch nicht gut. Der Unternehmer weiß nun, dass die Bundeskanzlerin sich große Sorgen um Europa macht. Nicht erst der Flüchtlingsstrom zeigt, wie zerrissen die Europäische Union ist. Die Griechenlandkrise ist immer noch da, aber die Einigkeit zwischen Deutschland und Frankreich in dieser Frage nicht mehr. Mittelsten Scheid, als ehemaliger Präsident der europäischen Handelskammer Eurochambres profunder Kenner Europas, ist der Meinung, dass es im Interesse der Griechen richtig gewesen wäre, aus dem Euro auszutreten. Mittelsten Scheids Sorgen wegen Europa sind nach dem Gespräch mit der Kanzlerin nicht geringer geworden. Im Gegenteil.

Von Angela Merkel hat Jörg Mittelsten Scheid nun ein anderes Bild. Sie ist eine Frau „mit hochintelligenten Augen“, eine Politikerin, die weiß, dass sie nicht gegen das Volk führen kann, die ebenso kühl kalkulierend wie warmherzig sein kann. „Ich hätte verstanden, wenn sie den Termin mit mir unter den Umständen abgesagt hätte. Aber das stand für Frau Merkel nicht zur Debatte. Warum? „Sie sagt, in stürmischen Zeiten müsse man Ordnung halten. Das mache sie ganz bewusst.“

Ob Mittelsten Scheid zur CDU zurückkehrt, ist offengeblieben. Das hängt von der CDU und deren Politik ab. Die Kanzlerin will wieder anrufen. . .

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