Erdogan-Referendum Unbewältigte Vergangenheit: Die verweigerte Integration

Die Ja-Stimmen der Deutsch-Türken zum Erdogan-Referendum zeigen, dass viele sich den Werten des Westens bis heute nicht angepasst haben. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Anpassung der Türken war lange Zeit von deutscher Seite nicht erwünscht. Zurück zu Teil 1.

Erdogan-Referendum: Unbewältigte Vergangenheit: Die verweigerte Integration
Foto: dpa

Im September 1991 belagerte ein rassistischer Mob von bis zu 500 Einwohnern in Hoyerswerda (Sachsen) ein Wohnheim für Vertragsarbeiter und ein Flüchtlingswohnheim; die Angriffe dauerten fünf Tage. Im August 1992 wurde der arbeitslose Baumaschinist Harald Ewert (1954-2006) zum lebenden Abbild des hässlichen Deutschen, als er volltrunken, mit eingenässter Jogginghose und zum Hitlergruß erhobenem Arm vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen (Mecklenburg-Vorpommern) Beifall klatschte, als 100 Neonazis Steine und Molotow-Cocktails warfen. Im November 1992 töteten Neonazis bei einem Brandanschlag in Mölln (Schleswig-Holstein) zwei zehn- und 14-jährige türkische Mädchen sowie deren Großmutter (51). Am 29. Mai 1993 wurden Gürsün Ince, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç bei einem Brandanschlag in Solingen von Neonazis ermordet, 17 weitere Opfer erlitten teils bleibende Verletzungen.

Bis zum Ende der Ära Kohl blieb es bei dem Regierungs-Dogma, Deutschland sei kein Einwanderungsland — mit der Konsequenz, dass ein Land, das angeblich kein Einwanderungsland ist, auch keine konsequente Integrationspolitik betreibt. Dies änderte sich 1998 mit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders (SPD), der Integration in seiner Regierungserklärung als „eine Schlüsselaufgabe dieser Zeit“ bezeichnete. Das blieb sie auch nach dem 11. September 2001, seit der islamische Terrorismus religiöse Intoleranz neben sozialer Benachteiligung und ethnischer Diskriminierung für viele Türken in Deutschland zum Alltag gemacht hat — obwohl nur sieben Prozent aller Migranten einem religiös-traditionellen Milieu zuzurechnen sind.

Weder ist nach 2001 wieder nichts geschehen, noch ist das Rad seit der Amtsübernahme von Angela Merkel (CDU) als Bundeskanzlerin 2005 völlig zurückgedreht worden. Vergleicht man jedoch die Sozialdaten von Aussiedlern (3,2 von 4,5 Millionen Aussiedler kamen von 1985 bis 2005 in Deutschland an) mit denen der drei Millionen Einwanderer mit türkischem Hintergrund, so ist das Ergebnis offensichtlich: Die Aussiedler, die direkt als vollwertige Deutsche behandelt wurden, sind die Sieger. Sie steigen leichter auf, sind Bildungsgewinner, entwickeln sich sozial besser, sind bei besserer Gesundheit und haben höhere Einkommen als die Verlierer, die Türken — die wie ungeliebte Gäste behandelt wurden, von denen man heimlich oder offen ausgesprochen hoffte, sie würden eines Tages wieder gehen.

Ja, es gibt in Teilen eine türkische Parallel-Gesellschaft, die nicht akzeptabel ist. Nach dem Erdogan-Referendum kommentierte die Chefredakteurin der Deutschen Welle, Ines Pohl, Deutschland werde das Problem mit den eigenen Erdogan-Anhängern auch nur selbst lösen können: „Und zwar, indem das Land endlich abschließend akzeptiert, ein Einwanderungsland zu sein, und diesen Umstand selbstbewusst gestaltet. Kein verdruckstes Leitkultur- oder Multi-Kulti-Gefasel, sondern ein klares Eintreten für die demokratische Verfassung: Wer in Deutschland lebt, hat zu akzeptieren, dass Kinderehen verboten und Ehrenmorde ein Verbrechen sind. Dass Homosexuelle ebenso gleichberechtigt sind wie Frauen, und dass sowieso das Grundgesetz über allem steht und diese Tatsache nicht verhandelbar ist.“

Dazu müssen sich nicht nur die Erdogan-Anhänger bewegen (oder bewegt werden), denn die Versäumnisse der Vergangenheit haben auch bei den Deutschen Spuren hinterlassen. Schon vor Jahren vertrat der Migrationsforscher Klaus Bade die These, dass die lange Phase der Konzeptions- und Perspektivlosigkeit in den Bereichen Migration, Integration und Minderheiten zur Eskalation von „Fremdenangst und schließlich Fremdenfeindlichkeit“ beigetragen habe.

Im Mai 2014 nutzte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck den 65. Jahrestag des Grundgesetzes für eine Einbürgerungsfeier von 23 neuen Staatsbürgern. Gauck sprach von den Veränderungen, „die Einwanderung für unser Land bringt“, auch von Zumutungen. Vor allem aber sprach Gauck über die Haltung, „mit der wir einander begegnen oder begegnen sollten — als Gleiche und doch Verschiedene.“ Als längst klar gewesen sei, dass viele bleiben würden, habe es noch lange geheißen, Deutschland sei kein Einwanderungsland: „Diese Haltung ist weitgehend überwunden — zum Glück, denn sie hat denen, die dazugehören wollten, Beheimatung und Teilhabe erschwert, und sie hat der aufnehmenden Gesellschaft die Illusion erlaubt, sie müsse sich nicht gleichfalls verändern.“ Dann sagte Gauck den 23 neuen Deutschen: „Es gibt ein neues Deutsches ,Wir’, das ist die Einheit der Verschiedenen. Und dazu gehören Sie genauso selbstverständlich wie ich.“

Um dieses Selbstverständnis der Einheit der Verschiedenen geht es. Es lässt weder Platz für „Ausländer raus“-Rufe noch für Forderungen nach Diktatur und Todesstrafe in einem anderen Land.

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