Bildung Teil 2: Haben Schüler nur Streifenhörnchen-Kompetenz?

Von der Wissensgesellschaft über den Pisa-Schock zur Kompetenz-Steigerung ohne Wissen: Seit drei Jahrzehnten wird das Bildungssystem zerredet. Schlauere Schüler bringt es nicht hervor.

Oft mangelt es am Basiswissen.

Oft mangelt es am Basiswissen.

Foto: Julian Stratenschulte

Berlin/Hamburg. Seit 2004 wurden alle Kerncurricula (also die Lehrpläne) in Deutschland auf „Kompetenzorientierung“ umgestellt, alle Aufmerksamkeit gilt seitdem dem angestrebten „Können“ der Schüler, nicht den im Unterricht zu behandelnden und zu vermittelnden Inhalten. In der Praxis bedeutet das: Wissen wird bei Wikipedia nachgeguckt, im Unterricht und in Klassenarbeiten werden „Operatoren“ angewandt. „Operatoren sind handlungsinitiierende Verben, die signalisieren, welche Tätigkeiten beim Bearbeiten von Aufgaben erwartet werden. In der Regel sind sie den einzelnen Anforderungsbereichen zugeordnet“, erläutert zum Beispiel der Lehrerfortbildungsserver Baden-Württemberg.

Zu den Basis-Operatoren gehören zum Beispiel die Verben „nennen“ und „herausarbeiten“. Angewandt bedeutet nennen: „Entweder Informationen aus vorgegebenem Material entnehmen oder Kenntnisse ohne Materialvorgabe anführen.“ Und herausarbeiten: „Informationen und Sachverhalte unter bestimmten Gesichtspunkten aus vorgegebenem Material entnehmen, wiedergeben und/oder gegebenenfalls berechnen.“ Erledigt der Schüler beides, gibt es Punkte. Mit einfachen „Operatoren“ sollen Schüler Reproduktionsleistungen erbringen, dann Reorganisations- und Transferleistungen erbringen (Inhalte bearbeiten und ordnen) und schließlich zu Reflexion und Problemlösung in der Lage sein, also Beurteilungen und Handlungsoptionen erarbeiten können.

Das klingt schwer fortschrittlich. Professor Hans-Peter Klein, Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt, wies anhand der berühmten „Streifenhörnchen“-Aufgabe aus dem NRW-Zentralabitur von 2009 im Bereich Biologie nach, dass selbst Neuntklässler heute Abituraufgaben lösen können, ohne jemals den dafür vorgesehenen Unterricht genossen zu haben: Die Schüler sollten den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen von Eicheln, der Population von Streifenhörnchen und einem Parasiten erklären. Dazu bekamen sie einen Text und eine Grafik, in denen alle Antworten enthalten waren. Die Aufgabe war, die Operatoren richtig anzuwenden.

Klein hat die aberwitzige Geschichte aus dem Bildungssystem im vergangenen Herbst noch einmal in Buchform gepresst („Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen: Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel“, zu Klampen-Verlag, 328 Seiten, 22 Euro). „Wenn nur noch ,Kompetenzen’, keine auf selbstständigem Denken basierenden Erkenntnisse eingefordert werden, können schulische Leistungen zwar scheinbar exponentiell steigen, aber um den Preis, dass die Schüler nur noch für ihr späteres Berufsleben zugerichtet werden“, heißt es im Buch. Die Wahrheit ist: Nicht einmal das funktioniert. Wie die Studie „Studierfähigkeit und Ausbildungsfähigkeit“ der Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU im vergangenen Jahr belegte, steigt trotz bester Schulabschlüsse die Anzahl der Abiturienten, „die gleich zu Beginn einer Berufsqualifikation in Unternehmen oder Hörsälen mit fehlenden Grundlagenkompetenzen hinsichtlich Sprache und Mathematik zu kämpfen haben“, heißt es dort.

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