Sicherungsverwahrung: Weitere Täter bald frei?

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte gibt Beschwerden von vier Sexualtätern statt.

Straßburg. Erneut hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Deutschland wegen der umstrittenen Sicherungsverwahrung für Schwerverbrecher verurteilt.

In drei Fällen war die Sicherungsverwahrung verlängert worden, obwohl die Täter eigentlich damit rechnen konnten, nach maximal zehn Jahren freizukommen. In einem anderen Fall musste ein Sexualverbrecher in die Sicherungsverwahrung, obwohl ihm dies im Urteil gar nicht angedroht worden war. Gerade diese nachträgliche Sicherungsverwahrung steht schon lange in der Kritik.

Zwar liegen die nun behandelten vier Fälle zeitlich vor der jüngsten Reform der Sicherungsverwahrung in Deutschland. Dass der EGMR aber erstmals deutlich eine nachträgliche Sicherungsverwahrung anprangerte, ruft auch viele Kritiker der Neuregelung wieder auf den Plan.

Nach heftigem Streit hatten sich Union und FDP auf einen Kompromiss geeinigt. Dazu gehört, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Neufälle abgeschafft wird. Für Täter, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes am 1. Januar straffällig wurden, ist sie aber noch möglich. Und derzeit sitzen noch rund 20 Menschen in nachträglicher Sicherungsverwahrung.

Der Tübinger Rechtswissenschaftler Jörg Kinzig interpretiert das Urteil aus Straßburg so, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung generell nicht zulässig ist. „Es spricht sehr viel dafür, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach Bundesrecht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt“, sagt Kinzig.

Sollte sich dies in weiteren Urteilen bestätigen, gebe es die „interessante Frage“, was mit den Tätern geschehe, die noch in nachträglicher Sicherungsverwahrung sitzen. „Ich bin der Auffassung, dass sie entlassen werden müssen“, sagt Kinzig.

Klar ist, dass es nach den neuen EGMR-Urteilen keine automatischen Freilassungen gibt. Über die konkreten Fälle müssen deutsche Gerichte entscheiden. Die aber urteilten bislang höchst unterschiedlich: Manche Oberlandesgerichte entschieden, Täter zu entlassen. Andere meinten, sie müssten hinter Gittern bleiben.

Über die grundsätzliche Frage, in welchem Verhältnis die Europäische Menschenrechtskonvention eigentlich zum nationalem Recht steht — welche Regelung von beiden also ausschlaggebend ist — verhandelt das Bundesverfassungsgericht Anfang Februar.

Für den Rechtsexperten Kinzig ist klar: „Recht und Praxis der Sicherungsverwahrung stehen erneut auf der Probe.“ Auch über Änderungen der Reform vom Jahresbeginn müsse der Gesetzgeber noch mal nachdenken.

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