Paragraf 175 Schwule Justizopfer freuen sich über spätes Zeichen des Rechtsstaates

Homosexuelle wurden in der jungen Bundesrepublik strafrechtlich verfolgt. Die Bundesregierung will die Opfer nun rehabilitieren. Geld ist dabei nicht so entscheidend, erzählt ein Betroffener. Für ihn ist etwas anderes wichtig.

Zwei schwule Männer halten sich auf dem Straßenfest zum Christopher Street Day in Thüringen an den Händen. Symbolbild.

Zwei schwule Männer halten sich auf dem Straßenfest zum Christopher Street Day in Thüringen an den Händen. Symbolbild.

Foto: Michael Reichel

Berlin/Tübingen. Der Tag Anfang 1961 beginnt für Helmut Kress wie jeder andere. Der damals 15-Jährige sitzt im Technischen Rathaus von Tübingen, wo er eine Lehre als Bauzeichner absolviert. Bis plötzlich Polizisten vor ihm stehen. „Und da wurde ich abgeholt und abgeführt und zum Verhör gebracht bei der Kriminalpolizei“, erzählt Kress. „Ich wusste noch nicht einmal wieso, warum, weshalb.“ Den Grund seiner Festnahme erfährt er erst auf der Wache: Seine Homosexualität.

Was heute viele nicht mehr wissen: Bis Ende der 1960er Jahre sind in der Bundesrepublik sexuelle Handlungen unter Männern nach Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs (StGB) strafbar. Nach einer Entschärfung wird das Relikt aus der Zeit des Nationalsozialismus erst 1994 abgeschafft. Bis dahin wurden allerdings geschätzt 64 000 Menschen nach dem Paragrafen verurteilt. Die Bundesregierung will die noch lebenden Betroffenen nun per Gesetz rehabilitieren und finanziell entschädigen, ihre Urteile aufheben.

Viele betrifft dies nicht mehr. Das Bundesjustizministerium erwartet etwa 5000 Anträge. Dennoch: Nach langen Jahrzehnten der Ignoranz werden nun endlich rechtspolitische Konsequenzen aus den schweren und massenhaften Menschenrechtsverletzungen gezogen, die auch vom demokratischen Staat an homosexuellen Menschen begangen wurden, meint der Lesben- und Schwulenverband.

Kress ist damals ein Brief zum Verhängnis geworden. „Eine Art Liebesbrief“ an einen anderen Mann, entdeckt in seinem Schreibtisch. Der Fund führt zur Anzeige gegen ihn. Verhört wird er nach seiner Festnahme von zwei Kripo-Beamten. Eingeschüchtert und offen berichtet er ihnen von seinen Kontakten zu Männern. „Du bist erzogen worden, dass du die Wahrheit sagst, wenn du was gefragt wirst.“

Kress muss damals - kurz vor seinem 16. Geburtstag - für 14 Tage ins Gefängnis. Einzelhaft im Jugendgefängnis in Oberndorf am Neckar, mit einem Eimer in der Zellenecke für die menschlichen Bedürfnisse. „Die 14 Tage Gefängnis sollten mich vielleicht umdrehen oder läutern“, mutmaßt Kress. Aber: Homosexualität sei keine Krankheit. Seine Lehrstelle im Rathaus ist er nach seiner Freilassung los. Er findet aber schnell einen neuen Ausbildungsplatz. Das meiste habe er schnell verdrängt, sagt Kress, „weil sonst wirst du ja verrückt“. Auch seinen sexuellen Neigungen geht er weiter nach: „Ich hab halt aufgepasst.“

Für sein Familienleben bedeuten das Bekanntwerden seiner Homosexualität und seine Verurteilung jedoch eine große Belastung. Es kommt - kurz nach dem Tod seiner Mutter - zum totalen Bruch mit dem Vater. „Das war das größte Problem bei der Sache“, erzählt der Gastwirt. „Wir konnten nicht mehr miteinander reden.“ Groß wird er hauptsächlich bei der älteren Schwester.

Homosexuelle seien „nach dem Paragrafen 175 strafrechtlich verfolgt, verurteilt und geächtet worden. Und das mit katastrophalen Auswirkungen für ihr soziales Leben“, sagt Bundesjustizminister Heiko Maas. Dieses eklatante Unrecht könne nicht wiedergutgemacht werden, „aber wir wollen ein Zeichen dafür setzen, dass der Rechtsstaat auch in der Lage ist, seine Fehler zu korrigieren“.

Helmut Kress freut sich über diese späte Einsicht, dieses späte Zeichen. Die finanzielle Entschädigung nennt er einen „schönen Nebeneffekt“. Für ihn zählt aber vielmehr: „Du weißt, du bist nicht verurteilt oder vorbestraft für eine menschliche Handlung.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
BMS - Redakteur Stefan Vetter  in
Endlich Tempo
Bund und Länder wollen „beschleunigen“Endlich Tempo
Zum Thema
Aus dem Ressort